Große Oper zu einer großen Lyrikerin

Von Frieder Reininghaus · 28.03.2011
Das Leben, Schaffen und die Leidensgeschichte der bedeutenden russischen Dichterin Anna Achmatowa stellt die gleichnamige Oper in den Mittelpunkt. Im Zuge der stalinistischen Herrschaft wurde sie mit Schreibverbot belegt, ihr Mann und der Sohn inhaftiert.
Vor fünf Jahren präsentierten die Opéra du Rhin in Strasbourg und das dort angesiedelte Festival musica eine erste Oper von Bruno Mantovani (*1974 Châtillon/Frankreich): "L'Autre Côté". Der Text beruhte auf einem Roman des Malers und Grafikers Alfred Kubin von 1908 und inspirierte eine facettenreiche und theaterwirksame Musik für eine Reise in eine "andere Welt" – sie führte in eine als hybride Gründung erkennbaren ferne Hauptstadt Perle, eine Vorläuferin des Brechtschen "Mahagonny".

Nun hat Mantovani, inzwischen Konservatoriumsdirektor in Paris, sich neuerlich einer "anderen Welt" zugewandt. Gestützt auf ein von Elisabeth Leonskaja in Auftrag gegebenes Libretto Christophe Ghristis befasste er sich mit Leben, Schaffen und Leidensgeschichte der Anna Andrejewna Achmatowa, die als bedeutendste russische Dichterin des 20. Jahrhunderts gilt. Seit den 30er-Jahren prägten deren Schaffen vor allem die Schrecken der stalinistischen Herrschaft: Achmatowa wurde mit Schreibverbot belegt, ihr Mann und der Sohn inhaftiert, eine größere Zahl ihrer Freunde und Kollegen ermordet.

Der Text der neuen, von Pascal Rophé musikalisch souverän geleiteten Oper folgt streng chronologisch Achmatowas Biografie von 1937 bis zum Tod 1966 in einer Datscha bei Moskau. Hauptsächliche Stationen sind die beengten Leningrader Lebensverhältnisse in den Jahren der Schauprozesse, die Auswirkungen der "großen Säuberung" auf das kulturelle Leben, die Evakuierung während des Großen Vaterländischen Kriegs nach Taschkent, die Rückkehr nach Leningrad und die Angriffe des Chefideologen Shdanow auf ihr Schaffen, schließlich die Einsamkeit und den letzten lyrischen Worten.

Zentral erscheint in der Szenenfolge der Konflikt mit dem Sohn Lew, der sich von der egozentrischen, sensiblen, von Schaffenskrisen heimgesuchten Poetin vernachlässigt fühlt. Er wirft ihr nach seiner Rückkehr aus dem Archipel Gulag vor, nichts zu seiner Freilassung unternommen zu haben. In den Dialogen zwischen Mutter und Sohn entwickelt die – mitunter mit redundanten Patterns operierende – Musik Mantovanis expressive Qualitäten und charakteristische Schärfen, die die Mezzosopranistin Janina Baechle mit der geballten Kraft ihrer Stimme in der großen Pariser Halle an der Place de la Bastille imposant herausprozessiert.

Attila Kiss behauptet sich neben ihr nicht minder energisch, verfügt dabei aber auch über die Register des eleganten Wohlklangs. Indem sich der Sohn für immer von der Mutter verabschiedet, hebt die Musik – nach dem Vorbild von Alban Bergs "Wozzeck" und "Lulu" – zu einem ausladenden symphonischen Intermezzo an, in dem Mantovani die breite Palette seiner Kompositionsweise auffächert.

Nicolas Joel, der Hausherr der Pariser Opéra, zeigt die Lebens- und Leidensgeschichte der Dichterin in der Ausstattung von Wolfgang Gussmann, die in geometrischer Säuberlichkeit und kühlem Weiß angelegt ist. Sie rückt ein von Amedeo Modigliani angefertigtes Jugendbild der Achmatowa in den Mittelpunkt. Die gradlinige konstruktive Schönheit der Ausstattung tritt in merkwürdigen Kontrast zu den vom Text verhandelten und von der Musik ausgemalten elenden, chaotischen, blutigen und teilweise ziemlich schmutzigen Zuständen jener Jahre in der Mitte des 20. Jahrhunderts, denen das deutschsprachige Musiktheater bislang nur wenig Aufmerksamkeit widmete.

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Requiem auf eine Volksdichterin
Welturaufführung der Oper "Achmatowa" in der Pariser Bastille


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Opera Bastille Paris "Akhmatova"
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