"Großbürgerkinder waren traditionell absolute Ausnahmen"

Michael Hartmann im Gespräch mit Katrin Heise · 18.01.2010
Der Soziologe Michael Hartmann erkennt in der derzeitigen Bundesregierung und dem Hintergrund der Minister zwei Extreme. "Das ist die erste Regierung, in der nur noch ein Arbeiterkind vertreten ist", sagte Hartmann. Gleichzeitig sei die Anzahl der Großbürgerkinder gestiegen.
Katrin Heise: Die politischen Eliten der Bundesrepublik rekrutieren sich zunehmend aus der Oberschicht. Das stellt Professor Michael Hartmann, Soziologe an der Technischen Universität Darmstadt zunehmend fest. Ich grüße Sie, Herr Hartmann!

Michael Hartmann: Guten Tag!

Heise: Dass unser Verteidigungsminister zu Guttenberg aus altem Adel stammt, das ist unverkennbar. Welchen Hintergrund haben Sie in der derzeitigen Regierung noch ausgemacht?

Hartmann: Man kann in der derzeitigen Regierung das an zwei Extremen sehr deutlich machen: Das ist die erste Regierung, in der nur noch ein Arbeiterkind vertreten ist mit Ronald Pofalla – als die erste Merkel-Regierung antrat, waren es immerhin noch vier. Gleichzeitig ist die Anzahl der Großbürgerkinder auf drei gestiegen. Großbürgerkinder waren traditionell absolute Ausnahmen in der deutschen Politik.

Heise: Sie haben gesagt, das war unter der ersten Merkel-Regierung noch anders, da war die SPD auch noch dran beteiligt. Wenn ich das jetzt so überlege, ist das parteiabhängig?

Hartmann: Ja, aber in der ersten Merkel-Regierung war die Gesamtzusammensetzung nicht anders. Es waren zwar mehr Arbeiterkinder da, aber der Anteil der Bürger- und Großbürgerkinder war schon ähnlich. Also nach dem Einstieg von Guttenberg waren das dann drei. De Maizière und von der Leyen waren ja vorher schon auch im Kabinett Merkel.

Das hat in dem Falle mit der SPD nichts zu tun gehabt. Normalerweise ist es so, immer wenn die FDP in die Regierung kommt, steigt der Anteil der Bürgerkinder, das war diesmal nicht so, weil schon während der Schröder-Ära sich das politische Spitzenpersonal deutlich verändert hat.

Heise: Aber trotzdem, wenn wir noch mal bei der SPD so drei Namen zum Beispiel sagen – Wowereit, Gabriel, Nahles, die kommen alle aus kleineren Verhältnissen.

Hartmann: Ja, das ist aber erst, seitdem die SPD im Bund nichts mehr zu sagen hat. Wenn Sie sich die SPD-Minister in den zentralen Ministerien angucken, also im ersten Schröder-Kabinett: Otto Schily, Großbürgerkind, dann Zypries, Unternehmerkind, Steinbrück, Eichel, Architektensöhne. Und so können Sie das durchgehen, alle zentralen Figuren in der SPD, das ging ja zeitweise …

Heise: Steinmeier.

Hartmann: Steinmeier ist eine Ausnahme, die gibt es immer noch, natürlich. Es gab die Arbeiter Müntefering auch, trotzdem für die SPD, verglichen mit der SPD in den 60er- oder 70er- oder gar 50er-Jahren war das eine dramatische Veränderung. Und das hat sich in den zentralen Ministerien damals sehr deutlich gezeigt.

Heise: Also das heißt, Sie würden da so eine Parteienabhängigkeit gar nicht mehr feststellen, wie sieht es aber in der Linken aus, sind da nicht noch andere Lebensläufe zu finden?

Hartmann: Ja, in der Linken ist immer das Problem, dass der Teil der Linken, der aus der Ex-DDR kommt, sehr schwer mit unseren Kategorien zu erfassen ist. Also wenn man mal absieht von Ärzten und Pfarrern, die in der DDR so was Bildungsbürgerliches repräsentieren wie im Westen auch, alle anderen Berufe, wenn jemand Ingenieur war, das war eine andere Position als die im Westen üblicherweise, oder wenn jemand einen Betrieb geleitet hat.

Das heißt, man kann nicht wirklich vergleichen. Und dementsprechend ist das bei all denen etwas schwierig. Und bei der Linkspartei sind nun mal viele Politiker, die da herkommen. Wenn ich den prominentesten im Westen nehme, das war Oskar Lafontaine, das war der letzte wichtige Minister der SPD, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte.

Heise: Sehen Sie die Zusammensetzung der Parlamente ähnlich?

Hartmann: Bei den Parlamenten ist es nicht so drastisch. Bei den Parlamenten hat sich vor allem eine Akademisierung durchgesetzt. Also es sind verschwunden die Arbeiter, kleinen Angestellten, die mit einem normalen Volksschulabschluss in dem Parlament gesessen haben. Heute ist das ähnlich wie in der Wirtschaft: Ohne Hochschulabschluss hat man praktisch keine Chance mehr, irgendwo aufgestellt zu werden.

Heise: Sehr viel Rechtsanwälte, Lehrer …

Hartmann: Ja.

Heise: … aus dem Hochschulbereich. Das heißt, Landes- und Bundesparlamente und auch Landes- und Bundesregierungen, also die Regierung, so im Sinne der sozialen Herkunft also keine repräsentativen Volksvertretungen mehr?

Hartmann: Das waren sie nie, weil ungelernte Arbeiter zum Beispiel waren immer stark unterrepräsentiert, aber es war früher vergleichsweise repräsentativ. Man hat über Jahrzehnte eine Zusammensetzung gehabt in der Bundesregierung: knapp zwei Drittel Kleinbürger-, Arbeiterkinder und ein Drittel Bürger-, Großbürgerkinder. Und das hat sich komplett auf den Kopf gestellt. Wir haben genau das entgegengesetzte Verhältnis.

Das ist auf Landesebene nicht ganz so krass. Es hängt mit der Größe des Landes zusammen, mit der Bedeutung der jeweiligen Ministerpräsidenten. Also wenn Sie ein Land nehmen wir Saarland oder Schleswig-Holstein, da werden Sie sicherlich auf Ministerebene noch viele soziale Aufsteiger finden. Das ist in größeren Bundesländern schon selten, aber es ist nicht so durchgängig wie in der Bundesregierung.

Heise: Woran liegt das?

Hartmann: Ja, weil die wesentlichen Entscheidungen immer stärker auf Bundesebene getroffen werden. Das heißt, Politiker, die wirklich Einfluss nehmen wollen, bemühen sich, ein zentrales Ministeramt auf Bundesebene zu erreichen. Es gibt ja nur vielleicht zwei, drei Ministerpräsidenten, die überhaupt in diesem Konzert mitspielen können.

Heise: Woran liegt das aber überhaupt, dass das politische Personal eine solche Wandlung durchlaufen hat?

Hartmann: Es gibt meines Erachtens zwei Erklärungen: Das Erste ist, in Deutschland gab es die klassischen Volksparteien. Die haben durch ihre spezifischen Rekrutierungsmechanismen, durch die Aufstellungsmechanismen, der Ortsverein hatte ein entscheidendes Wort mitzureden, dafür gesorgt, dass die Bevölkerung wenigstens noch halbwegs repräsentiert wurde. Das ist in anderen Ländern schon lange anders gewesen, also in den USA, Frankreich, Großbritannien oder so.

Und ein Zweites, was dazukommt: Es gibt in den heutigen zugespitzten Situationen ein größeres Interesse, in großbürgerlichen und bürgerlichen Kreisen auch unmittelbar politisch Einfluss zu nehmen, nicht nur mittelbar über Lobbyarbeit und Ähnliches, sondern man will auch unmittelbar Entscheidungen beeinflussen können, weil die Tragweite dieser Entscheidungen außerordentlich groß ist.

Heise: Wer macht die politische Arbeit, wer regiert uns? Unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit dem Soziologen und Elitenforscher Michael Hartmann. Nach den Gründen habe ich Sie gefragt, woher das kommt. Liegt es nicht aber auch daran, dass wir immer mehr von unseren Politikern verlangen? Dass da also einfach eine Bildung da sein muss, unter der es gar nicht mehr geht?

Hartmann: Da bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich so sein muss. Es ist sicherlich so, dass die Medialisierung der Politik dazu beigetragen hat, dass Leute, die sich gut verkaufen können, die gut reden können, dass die besser ankommen. Das würde aber meines Erachtens konterkariert durch Glaubwürdigkeit.

Also ich persönlich bin der Meinung, wenn jemand auftreten würde mit einem normalen Arbeiterhintergrund und nicht so geschliffen redet, man ihm aber abnimmt, dass das, was er sagt, auf eigener Erfahrung beruht und dass er das ernst meint, da würde er genauso mit punkten können.

Heise: Sie haben jetzt gesagt, durch diese Ochsentour in den Parteien – also von unten anfangen, sich hocharbeiten – hatten eben auch Leute aus kleineren Verhältnissen überhaupt eine Chance, da reinzukommen. Jetzt haben ja beispielsweise, nehmen wir mal das Spitzenpersonal von FDP und CDU – die ganz Jungen Lindner, Köhler, Rössler –, sie sind alle noch sehr jung, haben aber alle schon eine ganz lange Parteikarriere ja hinter sich. Die haben ja auch sozusagen eine kleine Ochsentour gemacht.

Hartmann: Ja, aber das ist eine andere Ochsentour als früher. Die CDU war sowieso schon immer etwas anders als die SPD. Aber wenn Sie sich angucken heute, Sie steigen früh ein – das ist ja so dünn, das Personal inzwischen auf dieser unteren Parteiebene, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie damit eine schnelle Kariere machen, wenn sie einsteigen, sehr viel größer ist als früher.

Früher gab es also in der SPD ganz massiv, da gab es Auseinandersetzungen auf Ortsvereinsebene um jede Kandidatur, und da waren viele Leute dran beteiligt: die Gewerkschaftschefs vor Ort und Ähnliches. Das ist heute alles vorbei. Heute ist wichtig, dass man gut reden kann, dass man sich frühzeitig entscheidet, einen mächtigen Mentor zu finden und ähnliche Dinge, und das führt zu einem anderen Personal an der Spitze.

Heise: Und Sie haben gesagt, dass eben eine bestimmte Schicht jetzt mehr Interesse daran hat, sich politisch zu artikulieren. Müsste doch aber – die Schicht der Arbeiter gibt es ja sowieso auch so nicht mehr, also die Kategorien in der Bevölkerung gibt es ja auch so nicht mehr unbedingt – aber da hätten doch diese Leute aus anderen Verhältnissen genauso einen Grund, sich weiter politisch zu artikulieren.

Hartmann: Ja, da ist eine Desillusionierung zu beobachten. Also Sie sehen das ja an den Wahlbeteiligungen. Wahlbeteiligungen sind umso höher, je gebildeter und je einkommensstärker der Bevölkerungsteil ist, und je ärmer und je ungebildeter, da ist Resignation einfach: Die machen sowieso nichts für uns. Und es wird natürlich auch immer schwerer.

Also wenn Sie in so eine Parteiversammlung gehen, wo es um Kandidaturen geht, da kommen Sie in relativ kleine Zirkel, und wenn Sie da schon Schwierigkeiten haben, sprachlich Schritt zu halten … Ich habe das bei uns beobachtet in der SPD, als die Gewerkschaftsleute ersetzt worden sind durch die höheren Angestellten aus der öffentlichen Verwaltung oder durch die Studienräte. Da verändert sich das Klima einfach, der Blickwinkel, und das wirkt abschreckend, ist nicht die einzige Erklärung, aber es ist so.

Heise: Das bedeutet, es droht ein fast hermetisch abgeriegelter Kreis zu werden, die politische Elite?

Hartmann: Nein, das würde ich jetzt nicht sagen, weil in der Politik ist es immer noch anders als in der Wirtschaft – man muss ja gewählt werden. Es kann ja sein, dass irgendwann in der Bevölkerung dieser Person überdrüssig werden und dass eine Partei, die anders antritt, damit entsprechend Stimmen gewinnen kann und sich dadurch wieder Veränderungen vollziehen.

In der SPD kann es durchaus sein, das jetzige Spitzenpersonal ist nicht mehr das alte. Also die ganzen bürgerlichen Vertreter in der SPD sind praktisch alle raus, die ganze Ministerriege. Das heißt, das ist nicht sicher, dass das wie in der Wirtschaft über Jahrzehnte so bleibt. Es ist im Augenblick aber ein Trend, den man seit 20, 25 Jahren beobachten kann.

Heise: Ich würde noch gerne auf die Konsequenzen zu sprechen kommen. Also wenn Sie da solche Elitenbildung ausmachen, was bedeutet das dann tatsächlich dann für die politischen Debatten, für die politischen Entscheidungen aber vor allem?

Hartmann: Das hat eine Konsequenz, vor allem wenn es um Verteilungsfragen geht: Gibt es in bürgerlich großbürgerlichen Kreisen relativ einheitliche Vorstellungen? Das ist anders als bei Fragen der Religion, der Sexualität, da gibt es da auch große Unterschiede. Bei Einkommensverteilungen, wenn es um Steuerbelastungen geht, Erbschaftssteuer und so, sind die zu über 90 Prozent einer Meinung.

Und wenn man sich nur in solchen Kreisen bewegt, seit Kindesbeinen an, sind das ganz selbstverständliche Sichtweisen. Andere Sichtweisen haben überhaupt keine Möglichkeit mehr, als Möglichkeit gedacht zu werden, und das sieht man dann – also ich habe zum Beispiel das für die USA gemacht: Da kann man sehen, bis 1980 kleinbürgerliche Mehrheiten in den Regierungen mit für die USA relativ ausgeglichener Einkommensverteilung, mit einem Anteil von 30 Prozent für die oberen zehn Prozent, danach die Zusammensetzung der Kabinette erheblich bürgerlicher, großbürgerlicher, also unter Reagan unter Bush bis zu 90 Prozent upper und upper middle class.

Und die Einkommensverteilung ist danach drastisch auseinandergegangen. Die oberen zehn Prozent haben inzwischen 50 Prozent. Und das ist ein Zusammenhang, der erklärt sich über Steuergesetzgebung, Sozialgesetzgebung und Ähnliches.

Heise: Sind wir ja mitten drin in der Debatte momentan.

Hartmann: Ja.

Heise: Was ist Ihrer Meinung nach zu tun, denn wenn ich Sie richtig verstanden habe, so richtig steuerbar ist das ja nicht?

Hartmann: Nein, das ist sehr schwer, weil das bedeutet natürlich, man müsste diejenigen, die nicht mehr repräsentiert sind, aufrufen, sich stärker zu engagieren, zu beteiligen. Also …

Heise: Werden sie aber ständig beispielsweise vor Wahlen.

Hartmann: Ja, ja, das ist klar, aber man muss, man darf nicht vergessen, dass wir lange Zeit gehabt haben, also mindestens ein Jahrzehnt, wo die Politiker selber immer wieder gesagt haben, wir können im Grunde ja nichts machen, das ist die Globalisierung. Das war ein Jahrzehnt – ich habe es an den Universitäten erlebt –, wo dieses Argument Initiativen gelähmt hat.

Wenn man sowieso nichts machen kann, wenn es sowieso der Markt ist, dann braucht man sich nicht engagieren. Das kriegt man so schnell nicht aus den Köpfen raus, es ist eine Sisyphusarbeit und öffentliche Aufklärung ist ein Teil davon. Aber mir fällt also eine Lösung, wo man jetzt sagen kann, oh prima, das ist es, die fällt mir auch nicht ein.

Heise: Wäre ja auch vielleicht ein bisschen sehr oberflächlich. Also bleiben wir bei der Aufklärung. Vielen Dank, Michael Hartmann, Elitenforscher und Soziologe an der Technischen Universität Darmstadt über die politischen Eliten in Deutschland, ihre Entwicklung. Vielen Dank für das Gespräch!