Großbritannien setzt den Rotstift an

Von Jochen Spengler · 28.04.2011
Am 1. April hat in Großbritannien das neue Haushaltsjahr begonnen. Jetzt wird es ernst mit dem Sparen im Königreich. Hochzeit hin, Hochzeit her - zu lange haben die Briten über ihre Verhältnisse gelebt. Doch die Einsparungen treffen vor allem die, die ohnehin schon wenig haben.
Es ist ein Drama in mehreren Akten. Schatzkanzler George Osborne erläutert im ersten Akt am 20. Oktober letzten Jahres vor dem Unterhaus seine Finanzstrategie. Einsparungen von 81 Milliarden Pfund erfordern eine wahre Streichorgie: 28 Prozent weniger für die Kommunen. Der Finanzminister gibt zu:

"Für die Kommunen bedeutet das Defizit, dass wir geerbt haben, eine unabweisbar herausfordernde Regelung. Es wird vier Jahre lang alles in allem jährlich 7,1 Prozent Einsparungen bei der Finanzierung der Kommunen geben. Aber um den Lokalbehörden zu helfen, schlagen wir eine massive Übertragung der Finanzkontrolle auf sie vor."

Mehr Finanzautonomie für Städte und Gemeinden also, bei gleichzeitig deutlich weniger Geld. Klar ist, dass bei einem Minus von durchschnittlich 28 Prozent über die nächsten vier Jahre auf die Kommunen dramatische Einsparungen zukommen.

Der zweite Akt folgt im Dezember. Räte und Bürgermeister warten gespannt auf die konkreten Zahlen und für die meisten kommt es schlimmer als befürchtet. Die erste Reaktion von Stadtdirektor Martin Reeves und seinem Stellvertreter in mittelenglischen Coventry lautet: ein schwarzer Tag, eine entsetzliche Regelung, 15 Millionen Pfund weniger insgesamt im nächsten Jahr

Man werde die Dienstleistungen für die Bürger verändern müssen, sagt Reeves, doch er meint: zusammenstreichen. Insbesondere sozial Schwache werden leiden, denn sie vor allem sind angewiesen auf lokale Schwimmbäder und Bücherein, Alten- und Schülerbetreuung, Bürgerservice oder Sozialberatung.

Außerdem: die wohlhabenden Regionen sind weniger von den Einsparungen betroffen als die armen im Norden Englands oder im Osten Londons: Der Stadtbezirk Newham galt lange als das Klo der Metropole. Hier hat sich viel verändert, seit Sir Robin Wales das Sagen hat. In einem Jahr werden hier die Olympischen Spiele stattfinden, woran der seit neun Jahren amtierende Bürgermeister einen großen Anteil hat. Doch der Labour-Mann ist sauer auf die Regierung wegen der Kürzungen:

"Sie sind sehr sehr unfair, wir bekommen hier in unserem sozial benachteiligten Gebiet in diesem Jahr offiziell neun Prozent weniger Geld von der Regierung, tatsächlich ist es noch viel weniger. Aber im wohlhabenden Richmond müssen sie nur auf ein Prozent verzichten, und es ist nicht einzusehen, dass die weniger sparen müssen als wir. Das ist eine sehr unfaire Regierung. Die wollen einfach kein Geld für Arme ausgeben. Das sind sehr brutale Leute. Es kümmert sie nicht. Sie glauben nicht an öffentliche Dienstleistungen, an die Dinge, an die wir glauben. Sie denken, dass sich jeder um sich selbst kümmern muss. Das ist ein sehr amerikanisches Modell. Das werden wir nicht zulassen, aber wenn es fair zugehen würde, dann würden nicht unsere, sondern die Zuschüsse für Richmond um ein Viertel gekürzt. Das passiert aber nicht."

Im Februar erfahren viele Briten im dritten und letzten Akt, wo die Kommunen streichen, worauf im neuen Haushaltsjahr ab April verzichtet werden muss. Manchester etwa, die nordenglische Industriestadt muss mehr als 100 Millionen Pfund einsparen. 2.000 Stellen in der Stadtverwaltung werden abgebaut, die öffentlichen Toiletten dicht gemacht. Fünf Stadtbüchereien schließen, Jugend- und Freizeitzentren und zwei Schwimmbäder. Spontan kommt es zur Protestaktion vor einem der Bäder:

"Ich bin wirklich geschockt", sagt die ältere Dame, und ein Mädchen ergänzt, "wir brauchen das Bad, es ist das einzige weit und breit". "Wir sind total sauer und werden protestieren und Barrikaden bauen wie die Ägypter", erzürnt sich eine Mutter, und eine Rentnerin, die dreimal pro Woche schwimmt, sagt, es werde ihr das Herz brechen.

Überall im Land wird protestiert und der Unwille kumuliert am 26. März in London. Mehr als eine viertel Million Briten aus allen Teilen des Landes kommt nach London, etwa das Rentnerpaar Dan und Christine Bryants, beide an die 70, das meint, dass normale Leute zur Kasse gebeten würden, während die Banker ihre Boni kassierten:

"Die Sozialkürzungen sind grausam und treffen die Ärmsten der Armen, die, die die meiste Hilfe benötigen. Im Regierungskabinett sitzen 16 Millionäre, und wenn Premier Cameron sagt, wir stecken alle zusammen im Schlamassel, dann ist das absoluter Unsinn."

Der "Marsch für die Alternative" ist die größte britische Gewerkschaftsaktion seit drei Jahrzehnten. Doch Schlagzeilen macht vor allem die gewalttätige Randale von einigen hundert Radikalen in Londons Einkaufsmeilen.

Arbeitslose, Armut, Morde – das waren lange Zeit Markenzeichen des Problem-Stadtteils Brixton, in Londons Süden. 1979 besang die Punkrockgruppe "The Clash" die Gewalt in der inoffiziellen Hauptstadt der afrikanisch-karibischen Community und vor 30 Jahren entluden sich die Spannungen in heftigen Rassenunruhen; niemand kann ausschließen, dass die unruhigen Zeiten zurückkehren.

"Es gibt eine Menge Schießereien und Vorfälle zwischen Jugendlichen, meist Raub, Straßenraub, aber vorwiegend zwischen Jugendgangs..."

sagt Lara, 42 Jahre alt und mittelgroß. Sie ist ein Park Ranger, was man an dem tannengrünen Poloshirt und der gleichfarbigen Kampfhose erkennen soll.

"Im Sommer, wenn das Wetter schön ist, hat man einen Anstieg solcher Zwischenfälle. Manchmal werden Pendler angegriffen, weil die oft Laptops dabei haben, hübsche Handys oder iPods, solche Dinge…"

Lara sorgt als eine von zehn Park Rangern in enger Abstimmung mit der Polizei für Ordnung in den 64 Parks und Grünanlagen des Stadtbezirk Lambeth, zu dem Brixton gehört.

Ein Hundebesitzer wird angesprochen, dessen Hund gekotet hat. Höflich, aber bestimmt wird das Herrchen darauf hingewiesen, dass er den Haufen seines Bullterriers vom asphaltierten Gehweg entfernen muss. Eine Plastiktüte bekommt er von Diane, der gleichaltrigen Kollegin, die mit Lara heute zu Fuß patroulliert. Nein, sagt die große Rangerin und schiebt dabei die dunkle Sonnenbrille übers strohblonde Kurzhaar, Gewalt hätten Lara oder sie noch nie anwenden müssen. Und man versehe einen wichtigen Dienst:

"Park Ranger sorgen für das Gefühl der Sicherheit in den Parks. Seit 2004 gibt es uns, und seither ist die Verbrechensrate hier um 40 Prozent gesunken."

Doch trotz der beeindruckenden Bilanz sollen in den kommenden Wochen alle Ranger ihre Arbeit verlieren. Der Stadtbezirk Lambeth will unter anderem die halbe Million Euro sparen, die der Ranger jährlich kostet.

"Es fühlt sich so an, als ob sieben Jahre harter Arbeit einfach futsch sind. Das Grundgefühl ist, dass es nicht lang dauern wird, bis es in einigen Teilen wieder so wird, wie es war. No-Go Zonen, wo die Menschen nicht hingehen, weil sie sich nicht sicher fühlen."

Mitverantwortlich für die Auflösung der Park Ranger ist Steve Reed, der Chef des Rats von Lambeth. Er müsse allein in diesem Jahr fast 40 Millionen Pfund einsparen, wirft der Labour-Mann während einer Fernsehdebatte Eric Pickles, dem konservativen Kommunalminister der Regierung, vor. Der aber entgegnet, es gebe in den Kommunen noch eine Menge überflüssiger Ausgaben.

"Ich halte es für sehr wichtig, dass man weiter versucht, die Behörden effizienter zu machen und Geschäftsführungen, Personal-, Rechts- und IT-Abteilungen und Beschäftigte gemeinsam nutzt. Und ich sitze hier einem Ratsherrn gegenüber, dessen Verwaltungschef 100.000 Pfund mehr als der Premierminister verdient. Ich glaube, dass, bevor Kommunalbehörden sich daran machen, die Dienste für die Schwächsten zu streichen, sie effizient umstrukturieren und Abteilungen wie die Beschaffung zusammenlegen sollten."

"Wenn ich alle meine Spitzenkräfte entließe", entgegnet der Labour-Ratsherr aus Lambeth, "würde ich weniger als ein Prozent der 90 Millionen Pfund sparen, die Eric Pickles uns vorenthält."

"Das Problem sind nicht Gehälter, das Problem ist, dass wir im ersten Jahr besonders hohe Kürzungen hinnehmen müssen und das macht es sehr viel schwerer, die Umstrukturierungen, die er will, vorzunehmen. Wenn er verstünde, wie eine Kommunalverwaltung arbeitet, würde er diese Vorwegkürzungen nicht erlaubt haben, weil die zur Einstellung von Diensten führen, auf die die Menschen vertrauen."

Zum Beispiel im Londoner Stadtbezirk Camden. Dort kümmert sich die 32jährige Clare von AGE UK Camden um die Betreuung alter Menschen:

"Wir haben einen von Labour dominierten Stadtrat in Camden, und der schiebt die Schuld auf die Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten, und die beschuldigt die Kommunen, an den falschen Stellen zu kürzen. Andere Leute sagen, wenn die Banken und Unternehmen vernünftig ihre Steuern zahlten, wäre das alles nicht nötig. Ich weiß es nicht. Ich sehe nur wirklich tolle Gemeindedienste, die auch von Freiwilligen geführt werden, vor dem Aus. Mir ist egal, wer in der Regierung ist, aber das hier will ich nicht, dass Dienste die über Jahre aufgebaut wurden, weggekürzt werden."
Im Tageszentrum Great Croft sitzen drei Senioren entspannt an ihrem sonnigen Fenstertisch, spielen Domino und unterhalten sich. Patrick ist vor kurzem 80 geworden. Das sieht man ihm nicht an. Weißer, sauber gestutzter Schnurrbart, grauer Haarkranz, randlose Brille und modischer Trainingsanzug. Patrick erzählt den beiden Mitspielerinnen von seinem Problem.

"Ich weiß nicht warum, sie haben mir gesagt – Gesundheit und Sicherheit. Seit meinem 14. Lebensjahr arbeite ich, und jetzt wo ich 80 bin, sagen sie, ich darf nicht mehr länger hier in der Küche helfen. Really?"

Auch in Großbritannien wiehert der Amtsschimmel, und besonders viele bürokratische Vorschriften verbergen sich hinter der Überschrift "Health and Safety".

Die beiden älteren Damen, die mit Patrick spielen, schütteln den Kopf, und Bella mit der großen Lesebrille und dem hellgrauen Lockenschopf sagt:

"Ich finde, du solltest so lange arbeiten, wie Du kannst und willst – und nicht, solange wie sie es dir erlauben. Ich habe es genossen, in der Küche zu helfen, aber jetzt kann ich noch Tee kochen für die Leute hier, etwas kopieren, mich mit ihnen unterhalten oder ihnen helfen, wenn sie es brauchen."

Patrick, der rüstige 80-Jährige in seinem Trainingsanzug, war Hausmeister im Krankenhaus und macht sich auch heute noch am liebsten nützlich. Er komme hierher nicht nur, um zu spielen.

"!Ich bin von der alten Schule. Da kann ich nicht anders.""Sehr wahr", bestätigt Bella, mit 88 Jahren die älteste in der Domino-Runde. Seit 28 Jahren kommt sie fast jeden Tag hierher. Ein großer Aufenthaltsraum mit langer Fensterfront zum Garten hin, freundlich dekoriert mit bunten Luftballons, auf dem rostroten Linoleum viele farbige Polsterstühle. Im hinteren Teil eine Küche mit großer Durchreiche. Bis zu 200 Alten werden hier Beschäftigung und Betreuung geboten. Bella genießt das:

""Du meine Güte, ja. Es gibt hier eine Menge Dinge, die man tun kann, und wenn die Betreuer sehen, dass Du nur rumsitzt, dann versuchen die ihr bestes, Dich einzubinden."
Der Rollator neben Bella täuscht. Sie hat überhaupt keine Lust, den ganzen Tag nur herumzusitzen; sie bowlt und spielt Dart. Andere bevorzugen Thai Chi oder Stuhlgymnastik; es gibt je nach Wochentag Tanz, Handarbeit, Zeichnen, oder Kunst- und Schmuckhandwerk. Kein Anlass ist zu nichtig, um nicht gefeiert zu werden und - darauf macht Janet, mit 63 die Jüngste, aber Schwergewichtigste in der Domino-Runde aufmerksam - jeden Mittag wird für nur drei Pfund ein Drei-Gänge-Lunch geboten:

"Doch bald ist Schluss damit", erzählt Clare, die Sozialarbeiterin von Age Camden, dem Träger des Heims. Vor kurzem kam die Mitteilung, dass vier von sechs Tagesheimen dicht gemacht würden. Auch dieses hier, womit der Bezirk 250.000 Pfund einsparen könne.

"Ich finde das total tragisch, dass wir momentan einen ausgezeichneten Dienst an Menschen leisten, die isoliert sind, keine Freunde und Familie mehr haben, die sich nicht mehr selbst zuhause verpflegen können. Die kommen hierher, beschäftigen sich mit irgendetwas, die Betreuer kümmern sich, und sie bekommen ein nahrhaftes Essen, und all das soll aufhören. Ich bin wirklich sehr traurig, verzweifelt und weiß nicht, was aus vielen hier werden soll."

Bella, die 88jährige sagt:

"Ich hatte einen Sohn, aber er ist vor sechs Jahren gestorben. Jetzt bin ich allein."

Zu Hause bleiben und stagnieren, das würde es für sie bedeuten, wenn das Zentrum schlösse, davon ist Bella überzeugt.

Es wird Zeit fürs Mittagessen. Noch hoffen alle, dass das Altenzentrum bleibt, und noch ist Patrick danach zu singen. Er macht sich nützlich und verteilt das Besteck auf die Tische.
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