Freitag, 29. März 2024

Archiv

Autorin Merav Salomon
"Rituale der Großeltern haben meine Kindheit geprägt"

Merav Salomon ist eine Illustratorin aus Israel, die manchmal ins Makabre gehende Bilderbücher für Kinder und Erwachsene zeichnet. Dabei spielen für sie auch ihre Großeltern eine große Rolle - deutsche Juden, die bereits in der Weimarer Republik nach Israel gingen.

Merav Salomon im Gespräch mit Tanya Lieske | 28.03.2015
    Das Brandenburger Tor am 09.011.2014
    Brandenburger Tor: Das Buch über die Familienreise nach Berlin wurde mehrfach ausgezeichnet. (picture-alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    Tanya Lieske: Merav Salomon ist eine Illustratorin aus Israel. Sie schreibt und malt Bilderbücher für Kinder und Bildgeschichten für Erwachsene. Großflächig, meistens bunt, der Popart abgelauscht und vom Thema her durchaus ins Makabre changierend, das sind ihre Bilder. Merav Salomon wurde 1967 in Tel Aviv geboren. Sie unterrichtet Illustration an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem. Und sie spricht neben dem Hebräischen fließend Englisch. Merav Salomon hat eine besondere Familiengeschichte, ihr Name verrät es, die Spur führt nach Berlin. Von dort aus sind ihre Großeltern noch zur Zeit der Weimarer Republik nach Palästina ausgewandert. Ihre geliebte Heimat haben Dorothea und Hermann Salomon mitgenommen, die Spitzendeckchen, den Nachmittagskaffee, die Bücher von Walter Trier und Erich Kästner.
    - Auf der gerade zurückliegenden Leipziger Buchmesse hatte ich das Glück, Merav Salomon am Stand des Deutschlandfunks zu treffen und sie nach ihrem Leben und ihrer Arbeit zu befragen. Als Erstes wollte ich von ihr wissen, wie es denn war, in der Wohnung der Großeltern in Tel Aviv zu Besuch zu sein.
    Salomon: Großeltern haben ihr Deutschland mitgebracht
    Merav Salomon: Meine Großeltern haben ihr Deutschland mitgebracht. Und sie haben sich geweigert, es zu verlassen. Das passierte damals, im Tel Aviv der späten 20er- und frühen 30er-Jahre, ziemlich oft. Es gab eine ganze Welle von Emigranten, das waren gut ausgebildete Juden aus dem deutschen Mittelstand, die eine säkulare Erziehung genossen hatten. Sie gingen in die großen Städte, hatten kein Interesse an der Landwirtschaft oder der Besiedelung Palästinas. Sie wollten ihr Berlin mitnehmen in den Nahen Osten. Meine Großeltern haben nie Hebräisch gelernt, sie sprachen Deutsch oder Englisch. Sie fanden das Klima anstrengend, sie haben sehr unter der Hitze gelitten. Sie lebten in dieser Kolonie von Deutschen. Und sie behielten ihre Routine und ihre Kultur einfach bei. Ich bin damit aufgewachsen, ich habe als Kind viel Deutsch gehört, die Rituale der Großeltern haben meine Kindheit geprägt.
    Lieske: Gab es deutsche Bücher, deutsche Autoren, die Sie als Kind begleitet haben?
    Salomon: Ja, ich bin natürlich mit dem Struwwelpeter aufgewachsen, wurde wegen meinen Haaren auch Struwwelpeter genannt. Ich bin auch mit Walter Trier und mit Erich Kästner aufgewachsen, mit Max und Moritz, mit Till Eulenspiegel und dem Baron Münchhausen. Ich habe nie Deutsch gelernt, aber ich habe mir die Bilder angesehen. Meine Großeltern haben nie etwas anderes gelesen als ihre deutschen Bücher zuhause.
    Lieske: Wenn ich mir ihre Illustrationen anschaue, dann habe ich die Idee, dass auch Grimms Märchen eine Rolle gespielt haben könnten?
    Salomon: Unbedingt. Aber es waren nicht nur die Gebrüder Grimm und die Bücher von Charles Perrault, es ist der ganze Geist, dieses Makabre und Groteske und auch die Brutalität in Kinderbüchern. Mir gefällt das alles sehr gut. Man kann das nicht nur bei Max und Moritz oder beim Struwwelpeter finden, man sieht das auch noch bei Erich Kästner, der ja viel erzählt von harten Kindheiten, da gibt es wenig Süßes, wenig Zuckerwatte. Das hat mir von Kind an gefallen.
    Lieske: Eines Ihrer Kinderbücher liegt auf Englisch vor, Daisy Skeletons Day at the Beach – Daisy ist ein Skelett und sie hat einen sehr schönen Tag am Strand - was hat es mit dieser Geschichte auf sich?
    Salomon: Ja, das ist eine verrückte Geschichte. Ich mag den Tod, am liebsten da, wo er komisch wird. Der Tod kommt zu uns allen, und ich habe auch richtig Angst vor ihm, weil ich so gerne lebe. Es gibt inzwischen jede Menge von Büchern, die Kindern vom Tod erzählen. Und was mir daran nicht gefällt, ist, dass sie so humorlos sind. Also habe ich mein eigenes kleines Projekt gestartet mit diesem Skelett namens Daisy, das habe ich auf meine Website gestellt. Dann hat sich ein Verleger aus den USA gemeldet. Und ich hatte die Chance, daraus ein Bilderbuch zu machen. Es ist eine ganz simple, lustige Geschichte, die den Tag eines Kindes am Strand erzählt. Nur - dieses Kind ist ein Skelett. Es trägt einen pinken Badeanzug mit weißen Punkten. Und ein gelbes Entchen schwimmt als Alter Ego immer mit. Mein Skelett macht, wovon alle Kinder am Strand träumen, es wird sogar zu einer Meerjungfrau. Das ist ein Nonsensebuch, etwas makaber und mit viel schwarzem Humor.
    Lieske: Sie sind, Merav Salomon, 2006 nach Berlin gereist. Es war Ihre erste Reise nach Deutschland, was ist da passiert?
    Familienurlaub in Berlin
    Salomon: Das war eine ulkige Geschichte. Wir haben eigentlich einen Familienurlaub machen wollen. Wir hatten nicht viel Geld. Und der preiswerteste Flug, den wir finden konnten, ging nach Berlin. Dort hatten wir Freunde, bei denen wir wohnen konnten, also es war eine ökonomische Entscheidung. Ich war nicht vorbereitet auf das, was mich da einholen würde. Sobald ich einen Fuß auf Berliner Boden setzte, hatte ich dieses überwältigende Gefühl von Vertrautheit. Wegen meiner Kindheit bei meinen Großeltern habe ich mich sofort zuhause gefühlt. Und das habe ich nicht erwartet, denn unsere Sozialisation in Israel ist ganz anders. Das hat viel mit dem Holocaust zu tun, wir sollen uns erinnern, wir dürfen das nie vergessen und so weiter. Und plötzlich war ich da und ich sah diese ganzen Deutschen. Und statt mich zu fragen, was sie im Krieg gemacht hatten, habe ich ständig überall meine Großeltern gesehen. Ich habe Sehnsucht empfunden. Und ich habe mich auch angebunden gefühlt, ich habe plötzlich verstanden, dass ich Deutschland in meinem Familienerbe habe, genauso wie Polen und Israel. Das war ein sehr starkes und ambivalentes Gefühl. Es hat mich in Konflikt gebracht mit mir selbst, ich habe Freude empfunden und Schuld und Sehnsucht, alles auf einmal. Als ich zurück in Israel war, habe ich all das in einer Reihe von Zeichnungen festgehalten. Ich hatte nie vor, daraus ein Buch zu machen, freue mich aber sehr, dass das passiert ist.
    Lieske: Das daraus entstandene Buch "Eine Familienreise nach Berlin" wurde in Israel mit vielen Preisen ausgezeichnet. Wir sehen kleine Fenster, Blick wie aus einem Zug, in jedem Fenster eine Szene, ein U-Bahn- Schild Eberswalder Straße, Haltegriffe in einer Bahn, einen Zaun, Stacheldraht, einen Dachfirst, eine Struktur, die aussieht wie das Denkmal in Yad Vashem. Sind das eher innere oder äußere Erlebnisse?
    Salomon: Es ist beides. Ihre Ambivalenz, wenn Sie dieses Buch betrachten, ist genau das Gefühl, das ich hervorrufen wollte. Einige diese Bilder beziehen sich auf Orte, die meine eigene Erinnerung stimuliert haben. Andere funktionieren eher wie Ikonen, sie setzen ein archetypisches Erleben in Gang. Und wieder andere illustrieren meine Gefühle und meine Emotionen.
    Lieske: Dieses Buch ist in Israel mehrfach preisgekrönt. Es gibt eine hebräische Ausgabe, Sie haben mir erzählt, dass die Anordnung der Bilder eine andere ist in der hebräischen Ausgabe?
    Salomon: Die hebräische Ausgabe gab es zuerst. Und in ihr habe ich die Reihenfolge der Bilder bestimmt. Es gibt kein Narrativ, sondern die Bilder sind wie Fenster, sie folgen aufeinander wie Perlen an einer Schnur. Als es dann in Deutschland verlegt wurde, hat man mich gefragt, ob es erlaubt sei, sie Reihenfolge der Bilder zu verändern. Man hat mir erklärt, dass es wie eine Übersetzung sei, dass man eine deutsche Grammatik für die Bilderfolge finden wollte. Ich fand das sehr interessant, weil es ja wirklich kein geschriebenes Wort gibt in diesem Buch, der Text ist im Bild versteckt. Auch im Cover sieht man kulturelle Unterschiede. In Israel habe ich durchgesetzt, dass das Cover so weit wie möglich von den üblichen Holocaust Covern entfernt ist, keine schwarzen, weißen, gelbe Sterne und so weiter. U so haben wir uns auf ein sehr helles Rot verständigt. In Deutschland sollte es blau und weiß sein, eine Anspielung auf die israelische Nationalfahne. Das wollte ich zuerst überhaupt nicht, weil es ein ganz privates Buch sein sollte. Also, wir haben dann einen Kompromiss gefunden und uns auf Türkis verständigt.
    Lieske: Lassen Sie uns ein wenig über die bildenden Künste in Israel sprechen, Ihre Studenten an der Kunstakademie, welche Arbeiten legen sie vor, was sind ihre Themen, was treibt sie um?
    Salomon: Ich habe mir hier auf der Messe gerade die Stände der Kunsthochschulen angeschaut. Und ich habe festgestellt, dass es die gleichen Themen und Trends gibt. Im Zeitalter der Globalisierung wird es immer schwieriger, ganz auf einen Ort bezogen zu arbeiten. Meine Studenten sind vielleicht ein wenig älter als andere Studenten, weil sie zuerst ihren Wehrdienst ableisten müssen. Wie andere junge Menschen interessieren sie sich vor allem für sich selbst. Sie interessieren sich auch sehr für ihre familiären Hintergründe, sie verfolgen die Geschichten ihrer Großeltern und ihrer Eltern. Identität, das ist so eine Obsession für uns Israelis. Wer sind wir, was steht uns zu? Das hängt damit zusammen, dass alles um uns herum noch so neu und so wenig gefestigt ist, so zerbrechlich. Also, unsere Studenten haben mir ihrer Identität zu tun, auch mit ihrer sexuellen Orientierung. Wir stellen uns an der Fakultät auch oft die Frage, was ist israelisches Design? Das können wir noch nicht ganz beantworten.
    Lieske: Wenn man sich die Tagespolitik in Ihrem Land anschaut, kann man in Verzweiflung geraten wegen der Spirale der Gewalt, die nicht enden will. Zwei Fragen in einem, glauben Sie, dass die politische Elite versagt und welche Rolle spielen die Künstler bei dem Versuch, Frieden in Ihrem Land zu schaffen?
    Salomon: Ich bin Optimistin und glaube, dass die Wahrheit und die Humanität am Ende siegen werden. Natürlich spreche ich hier für mein Umfeld, ich lebe in Tel Aviv und alle meine Freunde sind linksorientiert, liberal, interessieren sich für Menschenrechte. Für mich ist das normal, aber leider sind wir eine Minderheit, und das macht mir Angst. Wenn man die Regierung fragt, dann erfährt man, dass die Künstler als Bedrohung des Regimes angesehen werden. Ich glaube, dass wir in jeder Demokratie eine ganz große Rolle spielen. Die Künste sind so etwas wie die Ventilatoren der Gesellschaft. Sie beschreiben die Gesellschaft, sie verarbeiten ambivalente Gefühle und Prozesse, sie sind ein lebendes Gedächtnis. Aber im Moment werden die Künstler in Israel als Gefahr oder Bedrohung erlebt, sie gelten als überflüssig und werden nicht sehr geschätzt, jedenfalls weniger, als sie es verdienen.
    Lieske: In diesen Tagen ist viel die Rede von der deutsch-israelischen Verständigung. Seit 50 Jahren stehen Deutschland und Israel in diplomatischer Beziehung. Sie sind mehrfach in Deutschland gewesen, was wünschen Sie sich von Deutschland in diesem Prozess?
    Salomon: Was die Beziehung zwischen Deutschland und Israel angeht, da erlaube ich es mir nicht, Ansprüche zu stellen. Aber auf einer rein persönlichen Ebene fühle ich mich der deutschen Kultur sehr nahe. Die Künstler, die mich in meiner Arbeit am meisten beeinflusst haben, kamen aus Deutschland. Ich habe viele persönliche Verbindungen hier. Und ich glaube, dass der deutsche Buchmarkt der einzige ist, der sich mit interessanten Thesen am Weltgeschehen beteiligt. Viele meiner ehemaligen Schüler leben jetzt in Berlin, und wir haben viele deutsche Studenten in Israel. Es gibt eine sehr alte und sehr gewachsene Verbindung zwischen unseren beiden Ländern, die sich jetzt gerade bewährt. Die Schatten des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs verblassen zwar nicht, aber wie bei einer Sonnenuhr ändert sich ihre Richtung. In der Sonne sehen wir, dass unsere Beziehung sehr alt und sehr tief ist.
    Buchinfos:
    + Merav Salomon: "Eine Familienreise nach Berlin", Verlagshaus J. Frank Berlin
    + Merav Salomon: "Frostbeulen", Büchergilde Gutenberg
    + Merav Salomon: "Dazy Skeletons Day at the Beach", Another Sky Press