Grob gepixelte Tragödien

20.03.2008
"Second Life" zählt mittlerweile elf Millionen registrierte Nutzer. Die Anziehungskraft digitaler Zweit-Identitäten macht Alain Monnier auch zum Thema seines Romans "Unser zweites Leben". Er bedient sich bei Groschenheften und klassischen Dramen und probiert das Material in der neuen Lebenswelt aus - und scheitert. Denn seine Geschichte wirkt so künstlich wie die Avatare in der virtuellen Welt.
"Second Life" ist bekanntlich eine Mischung aus Rollenspiel und Alltags-Simulation mit gigantischen Ausmaßen. Die virtuelle Welt zählt mittlerweile elf Millionen registrierte Benutzer. Auf den ersten Blick geht es hier zu wie im richtigen Leben: Sex und Geld stehen im Mittelpunkt des Interesses. Doch was heißt es, in dieser zweiten Wirklichkeit zu leben? Welche Geschichten ereignen sich hier? Diesen Frage hat sich Alain Monnier gestellt - und begibt sich mit seinem Roman "Unser zweites Leben" nun auf eine literarische Expedition ins Netz.

Der französische Schriftsteller verlegt die Handlung in die nahe Zukunft. "Umweltzerstörung und Klimawandel" haben weltweit zu einer Massenflucht ins Internet geführt: Sechs Milliarden Menschen haben mit Hilfe eines freien Netzzugangs und eines garantierten Mindesteinkommens ihren Lebensmittelpunkt in die virtuellen Räume einer Online-Simulation namens "Unsere zweite Welt" verlegt. Auf überdimensionierten Bildschirmen verfolgen sie in ihren armseligen Wohnungen die Bewegungen ihrer jugendlichen Avatare und schicken sie zum Bummeln in die "Commercial MegaCity". Und vor allem versuchen sie, bei den anderen Bewohnern der digitalen Welt mit dramatischen Liebesgeschichten und Sex-Affären Aufmerksamkeit zu erregen.

Alain Monnier geht ins Detail und beschreibt unter anderem den Einsatz von ferngesteuerten Vibratoren, einer Sexpraktik, die tatsächlich bereits in einigen Online-Communities ausgeübt wird. Aber es geht natürlich nicht nur um das eine.

"Es befriedigt nun mal das Ego, betrachtet zu werden, beneidet, begehrt", erklärt der Playboy Isidro, der im wirklich Leben ein alter, kranker Mann ist: "Da spürt man die eigene Existenz." Also hat er gerade erst vor 300.000 Fans ein freizügiges Liebesspiel mit einem Avatar im Gewand der Jungfrau von Orleans arrangiert - und seinen "Sympathiefaktor" gewaltig in die Höhe getrieben.

Dann lernt er Eva kennen, die gerade erst ihr Dasein als übergewichtige, frustrierte Mittfünfzigerin gegen die Netzidentität einer jungen Frau getauscht hat und Isidro als "newbie" einen neuen Blick auf das digitale Leben eröffnet. Prominenter Liebhaber erliegt dem Charme eines naives Mädchen und wandelt sich zum besseren Menschen: Alain Monnier verwendet ganz bewusst ein triviales Erzählmuster, genau wie er an anderen Stelle seines episodenhaften Romans die Weltliteratur zitiert: Ein griechischer Avatar mit implantiertem "Schicksals"-Algorithmus wird mit seiner eigenen Mutter verkuppelt. Ödipus lässt grüßen.

Es liest sich wie ein Experiment: Alain Monnier bedient sich bei Groschenheften und klassischen Dramen und probiert das Material in der neuen Lebenswelt aus. Dennoch wirken seine Geschichten genauso künstlich wie die gepixelten Gesichtszüge der Avatare.

Und genau darum geht es: um das Scheitern der Literatur angesichts der digitalen Wirklichkeit. "Unsere zweite Welt" führt vor, dass die Menschheit mit ihrem Wechsel in ein Paralleluniversum wie "Second Life" Räume betritt, in denen die alten Geschichten keinen Wert mehr haben. Warum soll man Tragödien schreiben, wenn das Schicksal einer Figur sich durch eine Änderung im Programmcode ändern lässt?

Alain Monnier hat einen Abgesang geschrieben. Jetzt warten wir darum umso gespannter auf einen Roman, der auf Augenhöhe mit dem Leben im Netz ist. Vielleicht muss ihn ein Avatar schreiben?

Rezensiert von Kolja Mensing

Alain Monnier: Unser zweites Leben
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
Ullstein Verlag, Berlin 2008
322 Seiten. 19,90 Euro