Freitag, 29. März 2024

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Graphic-Novel "Die Leichtigkeit"
Mit dem Zeichenstift zurück ins Leben

Catherine Meurisse arbeitete viele Jahre als Zeichnerin für "Charlie Hebdo". Den Anschlag auf das Satiremagazin entging sie nur knapp - getroffen wurde sie trotzdem: Nach dem Attentat litt sie unter einem Trauma und verlor ihr Gedächtnis. Ihren Weg zurück ins Leben zeigt ihre Graphic Novel "Die Leichtigkeit".

Von Andrea Schwyzer | 20.12.2016
    Ausgaben der französischen Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo hängen am 01.12.2016 in Stuttgart (Baden-Württemberg) in einem Zeitungsständer eines Kiosks.
    Charlie Hebdo: Die erste Deutsche Ausgabe (dpa / Lino Mirgeler)
    Eine kleine Figur, eine Frau, mitten in einer Sanddüne.
    "Man sagte mir, es sei das Jahr 2015, gegen Ende des Monats Januar."
    Schlammiges Grau-Grün, Pastellblau und Gelb, zartes Lila. Trotz aller Farben wirkt die Szenerie kalt und ungemütlich.
    "Ich höre nichts. Mein Körper ist abwesend, nur meine Augen sind lebendig und suchen das Weite. Mir ist, als sähe ich den Ozean zum ersten Mal."
    Auf der nächsten Seite, plötzlich: Gleißendes Licht! Die Erde glüht Rot und Orange, als würde alles brennen. Und mittendrin diese zarte, zerbrechliche Frau Catherine Meurisse. Mit dieser Desorientiertheit fängt der Comic an.
    Der Schock sitzt tief
    Der Blick zurück: Am 7. Januar liegt diese Frau morgens übel gelaunt in ihrem Bett, verfolgt von den Erinnerungen an ein absurdes Gespräch mit ihrem Geliebten. Sie mag nicht aufstehen, wälzt sich herum, ist viel zu spät dran. Als sie in ihrem tannen-grünen Mantel endlich vor dem Redaktionsgebäude von "Charlie Hebdo" steht, stellen sich Kollegen ihr in den Weg: Geh nicht rauf zur Redaktion! Eine Geiselnahme! Weg da! Dann Schüsse. Viele Schüsse.
    "Sie schießen in die Luft. Man hört ihre Stimmen. Die werden in die Luft geschossen haben."
    Nach dem Attentat auf die Journalisten von „Charlie Hebdo“ in Paris, haben Menschen auf dem Place de la République aus Protest viele Kugelschreiber auf einen Haufen geworfen.
    Nach dem Attentat auf die Journalisten von „Charlie Hebdo“ in Paris, haben Menschen auf dem Place de la République aus Protest viele Kugelschreiber auf einen Haufen geworfen. (dpa/ picture-alliance/ Frederick von Erichsen)
    Nächstes Bild: Die kleine Frau im Mantel läuft schnurgerade durch ein geisterhaftes, leeres Museum ohne Kunst – läuft durch kahle Wände hindurch, bis zu Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei". Neben dem Bild mit dem verzerrten, angsterfüllten Gesicht taucht die kleine Frau in die Mauer ein und verschwindet.
    Verlust der Zeichenkunst
    Der Schock über das Attentat sitzt tief. So tief, dass Catherine Meurisse ihr Gedächtnis verliert – und ihre Zeichenkunst. In ihrer Graphic Novel findet sie dafür ein ausdrucksstarkes Bild: Sie, die schmale Frau, mit den dunklen, langen Haaren, ist hinter einer Gittertür gefangen, rüttelt verzweifelt daran, pocht wie wild gegen die Stahlrohre, denn ihre Kunst ist auf der anderen Seite – unerreichbar für Meurisse.
    "Ich hatte Angst, nie mehr Zeichnen zu können, meinen Beruf zu verlieren – nie mehr zu wissen, wie man zeichnet."
    Meurisse zeichnet sich in einem Bild deshalb ohne Hände.
    Doch sie hat zu ihrer Kunst zurückgefunden. Den Weg dorthin skizziert sie in der Graphic Novel "Die Leichtigkeit" mit Witz, Charme und bissiger Ironie. Etwa in ihrer Sicht auf das Paris nach dem Attentat: Überall ist die Parole "Je suis Charlie" zu lesen – auf den Produkten im Supermarkt, auf dem Lendenschurz von Jesus, auf dem Minipullover eines Dackels, ja selbst auf der Tüte, mit der dessen Herrchen den Kot aufhebt. Meurisse sitzt währenddessen in der Redaktion von "Charlie Hebdo" und fragt sich: Wer bin ich?
    Zeichnen als Form der Therapie
    Deshalb musste Meurisse sich selbst zeichnen, wie sie sagt:
    "Es ist das erste Mal, dass ich in einem Comic von mir erzähle. Das war nicht einfach – aber absolut notwendig! Instinktiv wusste ich, dass ich mich zeichnen musste – mich, wie ich Seite für Seite vorwärtsgehe, nachdenke oder zeichne. So konnte ich mich beobachten – sehen, dass ich nicht tot bin, dass ich in der Lage bin, mich zu bewegen – dass ich in meinen Zeichnungen lebendig bin."
    Man sieht Menschen, es ist Abend auf dem Platz der Republik, und es brennen Kerzen.
    Auf der "Place de la République" haben viele Menschen wieder Kerzen für die Opfer der Anschläge des Jahres 2015 entzündet. (picture-alliance / dpa / Olivier Corsan)
    Woran sich Meurisse schlussendlich festhält? Am Begriff der Schönheit. Lass dich von der Schönheit überwältigen und finde zurück zur Leichtigkeit – so ihr Plan. Dazu fährt sie unter anderem nach Rom in die Villa Medici. Dort freundet sie sich mit Künstlern an, wird von ihnen inspiriert und macht erste Schritte zurück in ein lebendigeres Leben – ein Leben, das von viel Humor geprägt war:
    "Das Lachen ist das, was Charlie Hebdo und die Zeichner dort ausmacht. Am Tag des Attentats wurde dieses Lachen attackiert. Aber wir haben versucht, nicht den Humor zu verlieren – denn den Humor zu verlieren käme dem Tod gleich. Humor ist auch eine Art, sich lebendig zu fühlen."
    Ausdrucksstark und facettenreich
    Catherine Meurisse arbeitet mittlerweile nicht mehr als feste Zeichnerin für "Charlie Hebdo". Sie möchte sich die Erinnerungen an die zehn Jahre vor dem Attentat bewahren, wie sie sagt. Wie es ihr heute geht?
    "Ça va mieux."
    Es gehe ihr besser. Die Arbeit an der "Leichtigkeit" habe ihr geholfen. Zeichnerisch ist das alles sehr ausdrucksstark und facettenreich dargestellt: Mal sind die Bilder detailliert und opulent in Farbe getaucht, mal reichen ein paar einfache Striche aus. Ihrer Graphic Novel hat Caterine Meurisse ein Zitat von Friedrich Nietzsche vorangestellt, das für den gelungenen Comic programmatisch ist:
    "Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen."
    Die Graphic Novel "Die Leichtigkeit" von Catherine Meurisse erscheint am 20.12.2016 im Carlsen Verlag, hat 144 Seiten und kostet 19.99 Euro.