Donnerstag, 28. März 2024

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Datenschutz im digitalen Zeitalter
"Unser Leben wird überwacht, als würden wir uns in einer Zelle befinden"

Computer revolutionieren unser Leben, das sei ihm früh klar gewesen, so der frühere Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar im Dlf. Skeptisch sieht er allerdings den Fortschrittsglauben, der sich mit Künstlicher Intelligenz verbindet. Mit Blick auf Sicherheitsbehörden warnt er: Mehr Daten bedeuten nicht mehr Sicherheit.

Peter Schaar im Gespräch mit Rainer Burchardt | 27.09.2018
    Peter Schaar
    Peter Schaar (dpa / picture alliance / Wolfgang Kumm)
    Burchardt: Ein Fachmann und Pragmatiker, ein engagierter und wacher Behördenleiter, ein Streiter für die Freiheitsrechte und Privatsphäre der Bürger. Peter Schaar war lange Jahre Deutschlands oberste Instanz in Sachen Datenschutz, und für viele ist er es bis heute geblieben, auch wenn seine Amtszeit als Bundesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit bereits vor fünf Jahren endete. Als erster Grünen-Politiker auf diesem Posten setzte er sich ab 2003 dafür ein, den Datenschutz vom Ruf der lästigen Pflichtübung zu befreien.
    Staatliche Überwachung kritisierte er, auch wenn sie mit dem Ziel der Gefahrenabwehr begründet wurde. So war Peter Schaar stets auch ein Unbequemer, in seinem Amt organisatorisch beim Innenministerium angesiedelt, aber politisch unabhängig. Staatliche Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen, biometrische Pässe, Vorratsdatenspeicherung, Antiterrorgesetze – Schaar mischte sich ein und musste sich dafür mitunter von Ministern anhören, er übertrete seine Kompetenzen.
    Dabei war der 1954 geborene Berliner in seinem Metier mehr als firm. Bereits in den 80er-Jahren hatte sich der studierte Volkswirt in der Hamburger Verwaltung mit Datenverarbeitung, Statistik und Datenschutz befasst. Im Hamburger Landesverband der Grünen, der damals in der Hansestadt noch Grün-Alternative Liste hieß, war Schaar ein früher Realo, wurde nach einigen Häutungen der Partei dann auch Landesvorsitzender. Seinem Thema ist der 2013 aus dem Amt des Bundesdatenschutzbeauftragten Ausgeschiedene bis heute treu: als Publizist, Lehrbeauftragter und Vorstandsvorsitzender der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz.
    Peter Schaar: Ja, ich habe den Mauerbau mitbekommen, ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie dann plötzlich auch Teile unserer Familie dann irgendwie nicht mehr da waren. Also die kamen nicht mehr zu den Familientreffen, das fand ziemlich regelmäßig bei uns statt, aber die waren dann einfach nicht mehr da.
    Eine Berliner Kindheit
    Rainer Burchardt: Herr Schaar, Sie sind anno 1954 in Berlin geboren, also wenn man das so sagen darf: in der noch analogen, also vordigitalen Zeitepoche. Zudem ja ein Monat nach der Weltmeisterschaft der deutschen Fußballmannschaft, die gemeinhin ja als eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik bezeichnet wird - und das Wirtschaftswunder nahm dann seinen Lauf. Was war das für eine Kindheit für Sie?
    Schaar: Es war eine völlig unbeschwerte Kindheit. Meine Eltern wohnten in Berlin-Britz, sie waren beide Grundschullehrer und hatten also auch ein festes, eigentlich verhältnismäßig gutes Einkommen, und die Gegend war wunderbar für eine Kindheit. Das konnte man sich im Grunde genommen nicht besser wünschen. Ein Park hinterm Haus, wo man spielen konnte, und insofern war das eine schöne und interessante Kindheit, ja, mit vielen Freunden und viel draußen sein. Das ist ja heute nicht mehr so selbstverständlich.
    Burchardt: Britz ist ja ein Ortsteil im Bezirk Neukölln. Neukölln wird ja als einer der Brennpunkte, der sozialen Brennpunkte in Berlin bezeichnet. War das in Ihrer Kindheit schon spürbar?
    Schaar: Also Neukölln war schon damals ein sozialer Brennpunkt, denn Neukölln ist ein ganz traditioneller Arbeiterbezirk gewesen, und er hat alle Tiefen, sage ich mal, durchlitten, die diese Arbeiterbezirke in der Weimarer Republik und auch in der Nachkriegszeit dann erleiden mussten. Aber Britz gehört zwar politisch, was die Zuordnung zum Bezirk anbelangt, zu Neukölln, aber das war schon eine etwas andere Welt. Dort ist die sogenannte Hufeisensiedlung, ein Weltkulturerbe heute, gebaut worden von städtebaulichen Reformern wie Bruno Taut, die gerade für die Arbeiterschichten ein schönes Wohnumfeld schaffen wollten, und das ist, wie durch ein Wunder, auch im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört worden, und insofern war das eine Gegend, die relativ wenig von diesen Problemen, die Kern-Neukölln auch damals schon betrafen - meine Mutter und mein Vater arbeiteten dort auch als Grundschullehrer in dem eigentlichen Neukölln -, die dort tatsächlich nicht zu übersehen waren. Britz war eine Gegend, wo so eine Durchmischung von so kleinbürgerlichen Menschen, die also ihre kleine Existenz hatten und eben von Aufsteigern, die großenteils sozialdemokratisch geprägt waren, also die über die Bildung einfach einen höheren Status erlangen konnten oder erlangen wollten. Genauso war das bei meinen Eltern.
    Burchardt: Ihre Schulzeit haben Sie dann ja, ich vermute mal, vom Jahrgang 1 bis 13 in der Fritz-Karsen-Gesamtschule, oder Gemeinschaftsschule hieß sie, begangen, und das ist ja eine ganz interessante Schule oder ein ganz interessantes Schulprojekt. Das war ja die erste Gemeinschaftsschule, die es in Deutschland gegeben hat.
    Schaar: Die Fritz-Karsen-Schule war tatsächlich die erste Schule, die im Westen diese Gemeinschaftsschulidee wieder aufgriff, die aus der Weimarer Zeit noch stammte. Fritz Karsen war der Schulleiter einer der ersten solchen Schulversuche in Berlin-Neukölln in der Weimarer Republik. Die Schule war die Karl-Marx-Schule. Meine Mutter war übrigens als kleines Kind auf diese Schule gegangen. Das war auch eine Schule, wo, anders als das seinerzeit üblich war, schon Koedukation herrschte. Das war natürlich nach dem Zweiten Weltkrieg kein Thema mehr, aber trotzdem war so ein schulreformischer Geist nach wie vor spürbar in dieser Schule. Viele der Lehrer kamen auch aus dieser Tradition, und dementsprechend war das eine offene und, finde ich, sehr kreative Lernatmosphäre gewesen, von der ich sehr profitiert habe bis heute.
    Burchardt: Berlin, Herr Schaar, war ja während Ihrer Kindheit und Jugend ein ja weltpolitischer Brennpunkt. Das kann man ja auch so bezeichnen. Also nehmen wir mal den Mauerbau 1961, da waren Sie gerade mal sieben Jahre alt, dann als Kennedy nach Berlin kam 1963, auch ein bisschen spät, wie damals viele Berliner ja empfunden haben. Haben Sie da schon viel mitbekommen, hat das Ihre politische Sozialisation irgendwie auch beeinflusst?
    Schaar: Ja, ich habe da erstaunlich viel mitbekommen, muss ich aus der heutigen Sicht sagen. Das ist ja vielleicht nicht selbstverständlich. Ja, ich habe den Mauerbau mitbekommen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie dann plötzlich auch Teile unserer Familie dann irgendwie nicht mehr da waren. Also die kamen nicht mehr zu den Familientreffen, das fand ziemlich regelmäßig bei uns statt, aber die waren dann einfach nicht mehr da.
    Burchardt: Und vorher fand der Austausch lebendig statt. Da konnte man immer hin und her fahren, ohne Einschränkungen.
    Schaar: Ja, das war ja kein Problem. Richtig, also man stieg in die S-Bahn oder U-Bahn und fuhr dann nach Osten oder nach Westen. Das war ja alles eine Stadt, wie es heute zum Glück auch wieder eine Stadt ist, und das war natürlich schon eine Nahtstelle. Spätestens in den 50er-Jahren war das ja offensichtlich nicht mehr zu übersehen, auch schon die Blockade und die dann einsetzende Luftbrücke durch die Amerikaner hat natürlich da vieles auch seinerzeit geprägt, und die Westberliner fanden das überhaupt nicht gut, was da im Osten stattfand, jedenfalls die allermeisten nicht, und das war nun sicher kein Modell, an dem man sich orientieren wollte, und diese Einschätzung teilte ich auch. Als Kennedy in Berlin war, war ich auch auf dem Rudolph-Wilde-Platz vor dem Schöneberger Rathaus. Das war schon ein interessantes Erlebnis, ja.
    Burchardt: War Kennedy dann auch, wie für viele ja auch bei uns in Westdeutschland, sozusagen der Popstar der politischen Jugend?
    Schaar: Also für mich nicht, aber für meine Eltern war das schon eine Leitfigur, und als er ermordet wurde, flossen viele Tränen. Also das war schon ein irrer Einschnitt, der damals da war und viele Hoffnungen, die dann zerstört wurden. Da wurde mir eigentlich klar, wie groß die Hoffnung war, die viele der Erwachsenen seinerzeit in ihn gesteckt hatten, und ich war ja damals auch noch nicht mal zehn Jahre alt, als das geschehen ist.
    Burchardt: 1968 ist dann ein sehr, sehr wesentlicher Zeitpunkt, nicht nur wegen der 68er-Bewegung, sondern auch gerade wegen der Kulminierung der gesamten Studentenproteste damals in Westberlin, Stichwort 2. Juni, Ermordung von Benno Ohnesorg, und Sie waren damals ja auch schon ein, ja, vierzehnjähriger Heranwachsender. Wie hat das alles auf Sie gewirkt?
    Schaar: Also zum einen ist es ja so gewesen, ich war ja nicht Teil der Studentenbewegung, dazu war ich einfach zu jung mit 14 – Sie sagten es, sogar 13 erst mal –, und als dann am 2. Juni 67 diese Vorkommnisse waren, wo dann Ohnesorg von diesem Polizisten Kurras erschossen wurde, von dem sich ja dann später kurioserweise rausgestellt hat, dass er auch noch ein Stasi-Spitzel war, was man damals natürlich nicht geahnt hatte, aber das war schon ein Schock, und ich wollte schon demonstrieren. Meine Eltern haben mir das nur nicht erlaubt. Das habe ich überhaupt nicht verstanden, empfand das als Unterdrückung, aber ich kann es natürlich heute sehr gut verstehen, dass die mich nicht rausgelassen haben.
    Wahrscheinlich war das auch gut so. Mein Vater hat mir dann angeboten, ich dürfte dann in seinem Auto Polizeifunk hören. Das war eigentlich verboten, aber das Radio hatte irgendwie so eine Einstellung, wo man dann doch so ein bisschen Polizeifunk hören konnte, und ich saß dann da stundenlang in diesem Auto und habe irgendwelche Meldungen, die ich nur halb verstanden habe, dann angehört und war sehr aufgewühlt. Also das hat mich schon beeindruckt, und das hat mich auch ein Stück geprägt, weil vieles, um das es da ging, das war ja auch schon durchaus so ein Punkt der Desillusionierung. Also Desillusionierung auch von den Amerikanern, denen man sich ja eigentlich sehr verbunden fühlte. Also was die Amerikaner im Iran gemacht haben, der Vietnamkrieg, das war ja etwas, was im kompletten Widerspruch stand zu dem, was wir eigentlich auch als Westberliner, also viele Westberliner, von ihnen erwarteten. Insofern war es auch sicher kein Wunder, dass gerade in Westberlin diese Bewegung besonders stark sich dann entwickelte.
    Burchardt: Da Sie gerade eben vom Polizeifunk hören gesprochen haben, vielleicht noch eine kleine Rückkehr zum Sender Britz, der ja damals der RIAS-Sender war und später auch vom Deutschlandradio, also Deutschlandfunk dann auch, ausgestrahlt wurde: Haben Sie damals intensiv den RIAS gehört und ihn auch als das empfunden, was er ja faktisch war, nämlich ein Kalter-Kriegs-Sender?
    Schaar: Also erst mal würde ich sagen, diese Einschätzung, er war ein Kalter-Kriegs-Sender, würde ich überhaupt nicht teilen, also jedenfalls nicht so pauschal. Da gab es viele Sendungen, die durchaus sachlich und kritisch und interessant waren, und ich selbst habe recht viel RIAS gehört. Das lag einfach an der Empfangstechnik. Wir wohnten relativ nah bei diesen Sendemasten, und die Rundfunktechnik, ich hatte so einen kleinen Zwei-Transistor-Empfänger, das kann man sich gar nicht vorstellen, also so ein winziges Gerät, das sehr, sehr empfangsschwach war. Da kriegte man RIAS rein und noch vielleicht einen Ostsender, und schon bei SFB war das – also dem Sender, der in der Masurenallee war –, war das schon sehr viel schwieriger, das reinzukriegen. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als da RIAS viel zu hören. Ich empfand, wie gesagt, das nicht als reine Kalte-Kriegs-Geschichte. Obwohl klar war, dass das Ding von amerikanischem Geld finanziert war, gab es da auch durchaus kritische Geister.
    Manfred Rexin beispielsweise, also ein Publizist, der damals sehr kritische, sehr radikaldemokratische Positionen vertrat, der war da ein Autor, der häufig zu hören war und den ich sehr gut fand zum Beispiel. Also insofern würde ich diese Bewertung, die Sie da gesagt haben, das war ein Kalter-Kriegs-Sender, so bis heute nicht teilen.
    Burchardt: Na ja, ich bin aus der … RIAS heißt ja Radio Im Amerikanischen Sektor, und Sie haben es ja selber auch erwähnt, es war im Grunde genommen ja die Absicht, über den RIAS weite Kreise der Bevölkerung der DDR über das zu informieren, was tatsächlich im Westen geschah. Insofern war das schon so.
    Schaar: Das ist völlig richtig, das war schon richtig, aber wissen Sie, Fake News gab es damals auch, und es mag auch die eine oder andere Falschmeldung über den RIAS gekommen sein. Ganz überwiegend kamen die Fake News allerdings aus der anderen Himmelsrichtung, aus dem Osten, wo man also wirklich nur alles schönredete. Gerade in den Medien, da wurde überhaupt nicht diskutiert, das war reine Propaganda, und dem gegenüber hatten die Amerikaner offensichtlich beim RIAS ein Konzept verfolgt, das ja gerade darauf setzte, eben doch auch im amerikanischen Verständnis von Rundfunk und Pressefreiheit zu berichten, und das war natürlich was ganz anderes. Insofern war das nichts, was wir, zumindest als vielleicht etwas unbedarfte Hörer, als Propaganda alleine ansahen, wie das vielleicht erst mal vom Namen dieses Senders naheliegt. Das war nicht Radio Free Europe, sondern das war ein anderer Sender, der wurde von deutschen Journalisten beschickt, und das waren nicht nur und nicht überwiegend Kalte Krieger.
    Schaar: Mit der IT war mir dann auch klar, das ist eine Technologie, die unser Leben revolutionieren wird.
    Computer - Potenzial und Gefahren
    Burchardt: Nach dem Abitur haben Sie ein Studium aufgenommen in der Volkswirtschaft, würde man auch nicht so ohne Weiteres drauf kommen. Warum gerade VWL?
    Schaar: Na ja, also ich muss zugeben, dass das viele Zufälle auch waren. Ich hatte gar nicht so einen ganz klaren Berufswunsch, schon gar nicht Datenschützer. Das Wort gab es ja im Übrigen auch gar nicht. Wirtschaft interessierte mich, schon immer. Ich hatte durchaus auch nach den 68ern mich sehr stark dafür interessiert, was bedeutet Kapitalismus, wie funktioniert das Ganze, und stand dem ja auch extrem kritisch bis ablehnend gegenüber, wie viele meiner Generation, und dementsprechend wollte man einfach auch wissen, wie kann es auch vielleicht anders laufen. Also das war schon so ein Punkt, wo man dann dachte, na, die Wirtschaft ist es eigentlich. Ein Spruch, der dann von Clinton ja später erst geprägt wurde, aber er war ja damals auch schon wahr, und genauso denke ich, dass das sozusagen ein Hauptmotiv für mich gewesen ist, und das ist bis heute so, dass es mich sehr interessiert, auch wenn dann, wie gesagt, bei meiner späteren Berufslaufbahn, diese Dinge dann doch eher in den Hintergrund getreten sind.
    Burchardt: Ja, und das ist ja das eigentlich Spannende, Herr Schaar. Wie sind Sie denn – Sie sagten eben, Datenschutz gab es ja damals noch gar nicht –, wie sind Sie denn eigentlich sozusagen auf diesen Weg gekommen, woher rührte da Ihr IT-Interesse?
    Schaar: Also mein IT-Interesse war einfach auch eins, dass ich fasziniert war von der Computertechnik, die ja dann auch in der Endphase meiner Schulzeit und dann also schon Anfang der 70er-Jahre und dann während der Studienzeit so in die Gesellschaft und auch in die Institute sickerte. So war es dann auch klar, dass ich dann, als ich dann meinen ersten Job in der Hamburger Verwaltung hatte, das auch mir ausgesucht habe als ein ganz wichtiges Feld, nämlich Ökonomie und IT zusammenzubringen. Da ging es dann um die Frage, ganz aktuell übrigens, wie wird sich der Lehrerbedarf entwickeln, und vieles von dem, was man damals berechnen konnte, war einfach als Information nicht erwünscht. Das war übrigens eine interessante Geschichte.
    Burchardt: Waren Sie da Programmierer sozusagen?
    Schaar: Ich habe auch programmiert. Ich habe ein Simulationsmodell, wie man solche Personalkörper entwickeln kann unter bestimmten Vorgaben, wie man dann auch die Parameter ändert, was sich dann ändert auch, wie viele neue Lehrer man braucht, wie die Lehrerseminare dann entsprechend zu bemessen sind, damit man dann diese Lehrer auch einstellen kann. All das gab es damals schon. Wie gesagt, da war ich an der vordersten Front und habe das entwickelt. Das Verrückte ist, kein Schwein interessierte sich dafür. Die, die politisch verantwortlich waren, die sahen dann eher so das Problem, na ja, jetzt sind gerade viele Schüler da, da braucht man viele Lehrer, oder es sind gerade weniger Schüler da oder es scheiden jetzt gerade welche aus, da muss man wieder mal Lehrer ausbilden. Das konnte man alles sehr lange im Voraus, über viele Jahre eigentlich, in den Grundzügen erkennen, auch sogar quantifizieren, aber das war nicht im Interesse. Ich hatte immer gehofft, das hätte sich geändert, aber heute sehen wir ja den Irrsinn, dass offensichtlich die planerischen Kenntnisse und auch die Bereitschaft, die dann auch umzusetzen, in Politik minimal sind.
    Burchardt: Ja, es ist ja dieselbe Problemstellung auch heute wieder gegeben. Man kann das ja im Grunde genommen wie eine Sinuskurve sehen, dass man sagt, dann, zu der Zeit waren die Babyboomer, da brauchten wir viele Lehrer, dann weniger, jetzt wieder mehr, und im Augenblick fehlen Hunderttausende in der Republik.
    Schaar: Das ist das Schicksal, ja.
    Burchardt: Sind Sie noch irgendwo mit dabei, das zu erforschen, zu ergründen und vielleicht auch Leute zu beratschlagen?
    Schaar: Zu erforschen nicht, nein, das nicht mehr, aber eines ist natürlich klar: Als politischer Mensch finde ich das schon ein ziemliches Armutszeugnis, was da stattfindet, wenn in Berlin jetzt tausend Lehrer neu eingestellt werden, von denen gerade mal ein Drittel dafür ausgebildet ist, dann ist das natürlich etwas, wo man sagen kann, na ja, da hat irgendjemand gepennt und zwar über sehr, sehr lange Zeit.
    Burchardt: Wir haben noch Jobchancen, Herr Schaar, wir haben noch Jobchancen.
    Schaar: Ja, na ja, klar, das können wir natürlich.
    Burchardt: Der fünfte Beruf.
    Schaar: Ja, also das will ich den Schülern eigentlich ersparen, dass jetzt die ganzen alten Knacker in die Schulen kommen, aber ich muss einfach sagen, man erfährt natürlich auch so ein bisschen, wie Politik, wie Verwaltung funktioniert, gerade diese beharrenden Kräfte. Man hat immer drei Prozent Fluktuation, schon seit Jahren, und das muss auch immer so bleiben, obwohl alle Fakten dagegensprechen. Also diese Verweigerung gegenüber solchen neuen Erkenntnissen, die war damals schon ziemlich stark, und ich habe den Eindruck, das ist heute nicht so wahnsinnig anders.
    Aber um jetzt noch mal sozusagen auf den Datenschutz zu kommen: Das hat mich natürlich dann so am Rande so interessiert, weil mit der IT war mir dann auch klar, das ist eine Technologie, die unser Leben revolutionieren wird. Das war mir da …
    Burchardt: Wann war das, wann haben Sie das erkannt?
    Schaar: Also ich würde mal sagen, Anfang der 80er-Jahre, 80, 81, 1982, da war mir klar, das wird unser Leben massiv verändern, und da war dann auch meine Suche, in welche Richtung geht das, welche Gefahren sind damit verbunden, und da ging es mir eigentlich nicht allein und nicht in erster Linie um Datenschutz, auch um die Frage, welche Wirkung haben Computer auf Strukturen, wie verändern die sich. Das war immer durchaus schon mein Interesse, und da habe ich dann wie wild mich da durch die durchaus überschaubare, damals noch überschaubare Literatur durchgewühlt, und das war schon sehr spannend. Ganz besonders möchte ich da einen Namen erwähnen: Joseph Weizenbaum, ein amerikanischer IT-Pionier, der übrigens deutsche Wurzeln hatte und von den Nazis aus dem Land getrieben wurde. Joseph Weizenbaum war derjenige, der am schärfsten für mich eigentlich diese Problematik auch aufzeigte, diese Doppelgesichtigkeit von Informationstechnologie, einerseits bestimmte Potenziale zu eröffnen, die in unserem Sinne sind, aber extreme Gefahren auch zu bringen. Damals ging es ja auch um die Frage der Waffentechnik und der Möglichkeit des Atomschlags oder des Atomkriegs. Damit hat er sich sehr beschäftigt, hat mehrere Bücher geschrieben. "Der Kurs auf den Eisberg" beispielsweise, das waren solche Werke, die mich sehr geprägt haben bis heute, und ich freue mich natürlich sehr, dass jetzt dieses Berliner große neue Internetinstitut seinen Namen trägt. Das ist absolut verdient, und das ist eine sehr schöne und passende Namensgebung. Es ist auch im Übrigen ein Auftrag, und ich hoffe, dass dieses Institut dem auch gerecht wird.
    Burchardt: Hier oben im Norden ist natürlich der Name Konrad Zuse auch als Pionier der Computertechnologie ganz berühmt-berüchtigt und auch ein Vorbild, das bis auf den heutigen Tag auch wirkt.
    Schaar: Das war ein Hardware-Tüftler, das war noch mal eine andere …
    Burchardt: Na ja, gut, er war der Schrauber sozusagen.
    Schaar: Der Schrauber, aber der Weizenbaum, das war ein Denker, das war jemand, der schon damals, sage ich mal, über die ganz konkrete Technik auch hinausgedacht hat. Der Begriff der Künstlichen Intelligenz, da hat er mitgewirkt, das zu entwickeln, auch die ersten Systeme, die überraschende Ergebnisse brachten. Schon damals mit den extrem bescheidenen Computern und Computermöglichkeiten war es möglich, bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen, die dann aber – und darauf hat er dann auch immer großen Wert gelegt – total überschätzt werden vielfach.
    Er hat ein System entwickelt namens ELIZA, das sozusagen einen Dialog mit einem Psychiater simulierte. Allerdings über Schreibmaschinentastatur, das war damals das sogenannte Interface, also die Schnittstelle zum Menschen, und die meisten, die das benutzt haben, fühlten sich verstanden von dem Computer, und für ihn … Er wollte eigentlich nur darstellen, dass das eigentlich gar nicht geht, und er war dann selbst überrascht, wie schnell dann Menschen bereit waren, diesen Ratschlägen oder dieser Technik, die dort realisiert wurde, dann zu folgen, und heute erleben wir ja den Boom der Künstlichen Intelligenz und wieder denselben Glauben, dass die KI unsere Probleme lösen wird. Ich bin da eher etwas skeptisch.
    Burchardt: Das ist gut, denn ich wollte Sie gerade fragen, was nach Ihrer Meinung sich im Augenblick im Silicon Valley abspielt. Auf der einen Seite sind da Leute, die in der Garage eine Firma gründen und Milliardäre werden, und auf der anderen Seite muss man sagen, also weiß ich noch, wer im Besitz meiner Daten, meiner persönlichen Daten ist. Sie werden das erinnern, Anfang der 80er-Jahre gab es in Deutschland eine Riesenprotestwelle, als der sogenannte Mikrozensus angeordnet wurde, weil man da Daten zu Papier bringen muss. Heute ist es so, dass jeder so viel wie möglich von sich offenbart über die verschiedenen Ausspielmöglichkeiten.
    Schaar: Also nicht jeder, ehrlich gesagt, nicht jeder will das, viele tun das – das ist richtig –, und es gibt aber auch viele, die sagen, was soll ich denn machen. Wenn ich weiterhin telefonieren will, wenn ich fernsehen will, wie kann ich überhaupt verhindern, dass diese Information dann auch in die andere Richtung gehen, ohne dass da Dritte von erfahren.
    Was mich aber besonders irritiert, ist diese Ideologie, die auch im Silicon Valley doch viele Anhänger hat, dass da so die Computerintelligenz die menschliche Intelligenz schon jetzt überflügelt habe und dass man doch eigentlich die Steuerung der Gesellschaft den Computern überlassen sollte. Das ist jetzt nicht nur eine, sage ich mal, Zuspitzung meinerseits, sondern es gibt Menschen, die genau so denken und die sagen, Demokratie ist deshalb ein Auslaufmodell. Das macht mir schon Sorgen. Zum Glück gibt es auch durchaus Mahner und Warner, und ich hoffe, dass auf die stärker gehört wird, und viele von denen kommen übrigens auch aus dem Silicon Valley. Viele sind Experten und Väter, wenige Mütter allerdings, des Internet gewesen und des World Wide Web, wo man sagen muss, da gibt es auch eine Gegenbewegung, und ich würde mich auch durchaus zu denen zählen, die diesen Computerglauben, der Computergläubigkeit ein Stück entgegentritt.
    Burchardt: Aber da sind wir natürlich jetzt bei den modernen Technologien. Uns wird suggeriert, der Pflegenotstand wird demnächst durch Computer beigelegt, von Japan hört man, und auch aus anderen, nicht nur Silicon Valley, hier sind Hochtechnologien unterwegs für die selbststeuernden Autos, die über GPS gesteuert werden, das ist unsere Zukunft. Ich meine, da muss einem ja angst und bange werden, wenn man das alles hört und das Ganze eigentlich, im Augenblick jedenfalls, wenig kontrollierbar.
    Schaar: Also man muss, glaube ich, schon ziemlich differenzieren. Also diese selbstfahrenden Autos, die wird es mit Sicherheit geben. Wie schnell das kommen wird, da gehen die Meinungen auseinander, und auch da sind ja viele ethische Konflikte mit verbunden. Denken Sie an die Frage, wen soll jetzt das Auto überfahren, das Kind, das gerade über die Straße läuft oder das Rentnerpaar, das gerade auf dem Bürgersteig ist, wenn der Bremsweg zu lang ist. Also da muss man einfach mal sagen, das sind Dinge, die wir den Computern nicht einfach überlassen können, und deutlich wird dabei dann eben auch, dass es allein nicht damit getan ist, eine Technologie, zum Beispiel Autos, einfach eins zu eins auf eine neue Basis zu stellen, wenn nicht die grundlegenden Rahmenbedingungen für Verkehr zum Beispiel sich ändern, also wo man sagen muss, es gibt andere Formen von Mobilität, die sehr viel umwelt- und menschenfreundlicher sind und gegebenenfalls auch gesünder. Ich denke jetzt …
    Burchardt: Meinen Sie den Lokführer?
    Schaar: Na ja, ich meine auch den Radfahrer. Also in der Stadt, ich benutze fast nur noch das Fahrrad für städtische Wege, auch wenn das zehn Kilometer sind. Ich finde das gar kein Problem. Das Problem ist, dass die Infrastrukturen so miserabel sind in Berlin, aber in Hamburg, wo ich ja auch lange Zeit gelebt habe und immer noch auch ein Standbein habe, ist das im Grunde nicht viel anders.
    Burchardt: Der zweite Teil, das war jetzt die von mir erwähnten Fragen, der Robotniks, die da jetzt am Werke sind, was sagen Sie dazu?
    Schaar: Nun, also bei der Pflege zum Beispiel, da bin ich schon etwas skeptischer. Also ich weiß nicht, wenn ich jetzt selber ein Pflegefall irgendwann bin, ob ich das dann toll finde, dass dann ein Roboter mir den Hintern abwischt. Also na ja, das sind solche intimen Geschichten, wo man dann sagen muss, ich möchte, auch wenn ich alt bin, auch wenn ich schwach bin, auch wenn ich krank bin, möchte ich menschliche Zuwendung haben. Ich möchte doch nicht nur so ein Objekt werden, und ich glaube, das geht den allermeisten Menschen so, egal, ob sie computeraffin sind oder nicht. Insofern muss man einfach sagen, die Vorstellung, dass Computertechnik da alle Probleme lösen wird, die ist absurd. Dass man mit Computertechnik bestimmte medizinische Fortschritte sehr schnell auch erzielen kann, sei das in der Genetik, sei das im Bereich der Diagnose bestimmter Krankheiten – denken Sie an Herzkrankheiten oder so –, dass da auch geholfen werden kann, das ist absolut wichtig und gut, dass es das gibt, aber die Vorstellung einer endpersonalisierten Pflege oder Medizin, die teile ich absolut nicht.
    Schaar: Das ist die digitale Rundumüberwachung im Grunde, das elektronische Gefängnis. Unser Leben wird so überwacht, als würden wir uns in einer Zelle befinden.
    Von Computermündigkeit und Transparenz
    Burchardt: Ich muss Sie fragen aus aktuellem Anlass, nach dem Handyverbot an französischen Schulen, was jetzt erlassen worden ist, und dieses Thema wird ja durchaus auch bei uns diskutiert, allerdings noch sehr ambivalent, aber ich sage jetzt mal Stichwort wie Google, Facebook, Instagram, Twitter, Tweets, Apps, YouTube, Handys und so weiter, all dieses beherrscht im Augenblick insbesondere die jüngere, aber nicht nur die jüngere Generation. Ist es nicht langsam mal Zeit, dass wir Einkehr nehmen und sagen, Mensch, wohin führt uns das alles?
    Schaar: Also die Frage ist absolut berechtigt, und es hat ja vor einigen Tagen in Hamburg eine Demonstration von Kindern gegeben, die gegen den Smartphone-Gebraucht durch ihre Eltern protestierten. Wahrscheinlich haben die Eltern das selbst organisiert, aber vielleicht ist es dann auch ein Art … Also egal. Also jedenfalls ist es so, ja, das ist ein Riesenproblem, und auch ich bin in gewisser Hinsicht handysüchtig oder smartphonesüchtig. Ich gucke häufig auf mein Smartphone, ich versuche es ein bisschen zu reduzieren.
    Burchardt: Dass Sie das als Datenschützer sagen, das ehrt Sie, Herr Schaar!
    Schaar: Na ja, mein Gott, es gibt ja auch irgendwelche Forscher, die sich mit Lungenkrebs beschäftigen und rauchen, also mein Gott, also das gibt es schon. Also die entscheidende Sache dabei ist doch, dass wir erkennen, dass wir süchtig geworden sind, und was eigentlich ein Skandal ist, ist, dass es viele, die da in diesem Bereich technisch unterwegs sind und wirtschaftlich, daran arbeiten, die Menschen abhängig zu machen, immer mehr sozusagen dazu zu bringen, dass sie im Grunde ohne diese Techniken, ohne diese spezielle App, ohne dieses neueste Modell des iPhone nicht mehr leben können, und das ist eine absolut bedenkliche Entwicklung.
    Wenn Herr Macron und das französische Parlament hier so demonstrativ jetzt ein Handyverbot in der Schule verkünden, dann muss ich mal sagen, ich finde das jetzt mal sozusagen als ein Signal nicht schlecht. Ob das jetzt die Probleme wirklich löst, das ist eine ganz andere Frage. Wir brauchen Computermündigkeit auch. Die entsteht natürlich nicht alleine durch Enthaltsamkeit, aber zu erkennen, dass man auch mal ohne kann, ich meine, das ist ja schon mal ein Lernprozess, der dann ausgelöst wird. Insofern sehe ich das nicht so skeptisch wie einige andere.
    Burchardt: Ich würde Sie gerne verleiten, mal mit mir zu gehen in der Relativierung des Begriffs Transparenz. Ich denke, das wird Sie auch Ihre Zeit als Datenschutzbeauftragten begleitet haben. Stichwort gläserner Mensch und natürlich dann auch die Frage Freiheit versus Sicherheit. Sie selber haben ja irgendwann auch mal geschrieben, man soll sich ja nicht einbilden, dass durch die Einschränkung der Freiheit größtmögliche Sicherheit entstehen kann. Ist Transparenz nicht im Grunde genommen ein Begriff, der uns sehr verführt, nach dem Motto: ja – ich rede jetzt gar nicht von Leuten, die sagen, ich habe nichts zu verbergen, das ist verräterisch, aber Leute …
    Schaar: Das ist vor allem blöd.
    Burchardt: Ja, beides, gut. Aber es ist ja wirklich so, dass man sagt, also Transparenz, Entschuldigung, also ich möchte nicht unbedingt, dass all meine Alltagsgewohnheiten jetzt weltweit kommunizierbar sind. Was sagen Sie dazu?
    Schaar: Also ich habe da auch immer sehr klar unterschieden, wenn es darum ging, ob ich jetzt twittere – früher war ich sogar mal bei Facebook, ich bin da ja ausgetreten, als das mir zu übergriffig wurde –, aber da unterscheide ich schon zwischen dem, was ich sagen will, wozu ich mich äußern will und die Dinge, worüber ich nichts twittere, über meine persönlichen Verhältnisse zum Beispiel twittere ich nicht, aber den einen oder anderen Kommentar zu politischen Dingen, auch den einen oder anderen Kommentar zu Dingen, die den Datenschutz betreffen, da bin ich dabei. Ja, da ist das ein tolles Medium, aber man muss dann auch ein Stück auch Selbstdisziplin aufbringen, und die Vorstellung, alles Private öffentlich zu machen, ist ziemlich irre und zerstört letztlich auch das private Leben. Ein großes Problem, das ich sehe, und da können wir viel schwerer gegen an – das kann ich ja im Grunde noch selber entscheiden, worüber ich erstelle ich einen Facebook-Eintrag, worüber nicht, was schreibe ich da, das geht ja noch –, aber das Problem ist ja, dass auch dann, wenn ich nicht mich öffentlich äußere, viele, viele Daten entstehen, und da bin ich auch transparent, ich mache mich transparent, aber diese Transparenz ist nur einseitig gegenüber den Firmen, die über die Techniken verfügen, diese Daten aufzusammeln oder gegenüber dem Staat.
    Da sind wir dann im Prinzip auch schon bei diesem Problem Sicherheit und Freiheit. Im staatlichen Bereich wird das ganz stark begründet, dieses exzessive Datensammeln, gerade im Sicherheitsbereich, mit der Sicherheit, und da muss ich sagen, eine logische Beziehung, dass mehr Daten zu mehr Sicherheit führen, die besteht nirgends. Im Gegenteil, dort, wo die Überwachung überhandnimmt, delegieren wir als Menschen unsere Verantwortung an diese Überwachungstechniken, die aber gar nicht so gut funktionieren. Das ist, glaube ich, ein Fehlglaube, und der führt zu Verwerfungen, die, wenn dann die politischen Verhältnisse sich mal ändern – und wir können da ja auch nicht ganz sicher sein, das haben wir ja in anderen Ländern auch erlebt, wir haben es auch in Deutschland erlebt mehrfach, liegt das schon ein bisschen länger zurück –, wenn diese Verhältnisse sich ändern, dann sind diese Überwachungstechniken eine ganz scharfe Waffe, die auch gegen die Freiheit und gegen die Demokratie eingesetzt werden kann.
    Burchardt: Im Grunde genommen ist das der digitale Hausfriedensbruch.
    Schaar: Na das ist nicht digitaler Hausfriedensbruch, das ist die digitale Rundumüberwachung im Grunde, dass elektronische Gefängnis. Unser Leben wird so überwacht, als würden wir uns in einer Zelle befinden. Also das finde ich viel, viel schlimmer, und der Staat ist insofern dann auch grenzenlos, als er dann die Möglichkeit hat, auch in die Bereiche einzudringen, die uns besonders privat und heilig sind, und das ist genau ein Problem. In der Demokratie, in einem Rechtsstaat, wo es ein Bundesverfassungsgericht gibt, wo es einen Europäischen Gerichtshof gibt, da gibt es ja Kontrollmechanismen, da gibt es auch Datenschutzbeauftragte, ist ja auch ihre Hauptdaseinsberechtigung, dass sie da helfen und dass sie da gegenwirken, dass man sagt, hier hat auch der Staat, so legitim die Interessen sind, auch Sicherheitsinteressen, Terrorismusbekämpfung, Aufklärung von Straftaten und so weiter, da gibt es trotzdem noch Grenzen.
    Burchardt: Aber ist nicht dann in dem Zusammenhang gerade auch durch Staatstrojaner, wie Sie heißen neudeutsch, oder durch diese Überwachungsgeschichten wie Vorratsdatenspeicherung, ist da nicht auch jetzt schon politisch zumindest der Staat in ein, ich sage jetzt mal aus meiner Sicht: schwer kontrollierbares Stadium geraten?
    Schaar: Na ja, jedenfalls ist er auf einem Weg, immer mehr Daten anzuhäufen und immer tiefer in das alltägliche Leben auch von Menschen hineinzuschauen, und das halte ich für bedenklich. Nehmen wir diese Vorratsdatenspeicherung: Was mich da besonders dran stört, ist, dass es so ungezielt stattfindet. Das ist ja nicht etwas, was stattfindet, wenn da irgendjemand einen Verdacht hat, da plant jemand was ganz Schlimmes, sondern jeder, der telefoniert, jeder, der im Internet surft, ist davon betroffen.
    Burchardt: Wir stehen unter Generalverdacht, genau.
    Schaar: Richtig, und bei der Videoüberwachung ist es nicht so wahnsinnig viel anders. Viele denken ja, die Videoüberwachung würde unsere Gesellschaft sicherer machen. Ich bin davon nicht überzeugt. Da reicht ein Blick nach London aus. Die meiste videoüberwachte Stadt gehört nach wie vor zu den unsichersten Städten, und das hat sich in den letzten Jahren sogar noch verschlimmert. Ganz anders als bei uns übrigens, wo wir viel weniger Videoüberwachung haben, und insofern muss man einfach sagen, diese Gleichung: Mehr Überwachung ist mehr Sicherheit, mehr Daten sammeln führt dazu, dass wir uns sicherer bewegen können, diese Vorstellung ist, glaube ich, falsch.
    Schaar: Datenschutz ist viel zu wichtig, um ihn den Datenschutzbehörden zu überlassen.
    Was Staat und Bürger tun können
    Burchardt: Die Europäische Union hat ja nun, dieses alles berücksichtigend, die Datenschutzgrundverordnung auf den Weg gebracht, schwieriges Wort, aber geht ja in diese Richtung der Kontrolle. Was halten Sie davon?
    Schaar: Die Datenschutzgrundverordnung macht eigentlich nichts anderes als das, was wir in Deutschland schon seit Jahrzehnten, seit 1977 haben im Bundesdatenschutzgesetz, auf europäische Ebene zu beamen und da gleiche Bedingungen zu schaffen. Mit einem Unterschied: Die Dinge, die da jetzt drinstehen, die können auch durchgesetzt werden, und wer sich dagegen vergeht, der muss riskieren, dass er auch eine doch empfindliche Strafe bekommt. Das ist die eigentliche Neuerung dabei. So wahnsinnig innovativ ist das Ganze nicht, aber trotzdem ist es gut, schon deshalb, weil klar ist, dass Verstöße auch Folgen haben können, selbst für große Unternehmen, die dann zum Beispiel so eine Geldbuße, die dann in die zig Millionen gehen kann, nicht mehr aus der Portokasse bezahlen können. Das ist das eine.
    Der zweite Aspekt – und ich halte ihn gerade in diesen Zeiten, wo der Nationalismus ja wahre Triumphe feiert, sehr wichtig –, dass hier Europa tatsächlich gesagt hat, Mensch, wir wollen für alle 27 Mitgliedsstaaten ein Datenschutzgesetz machen, das überall gleichermaßen auch dann durchgesetzt wird, und das ist gelungen. Also Europa war in vielen anderen Bereichen ziemlich erfolglos. Denken Sie an die Flüchtlingspolitik, denken Sie an das Steuerrecht und viele andere Bereiche, aber hier, denke ich, war mal ein Erfolg da, und insofern preise ich den auch, auch wenn es, sage ich mal, für den Einzelnen, der dem jetzt unterworfen ist, nicht immer ganz einfach ist. Ich denke da an den Verein oder den Handwerker, der dann irgendwelche bestimmten neuen Auflagen kriegt, die häufig gar nicht so neu sind, aber die er jetzt auch ernst nehmen muss, und das macht schon Ärger. Das ist schon richtig, das ist lästig für viele, aber ich denke, es ist einfach notwendig angesichts der Tatsache, dass wir überall immer mehr Informationstechnologie und immer mehr Daten haben.
    Burchardt: Herr Schaar, zum Schluss unseres Gesprächs würde ich doch noch ganz gern über die scheinbare, sage ich mal vorsichtig, Machtlosigkeit politischer Institutionen gegenüber dem technologischen Fortschritt, gerade im IT-Bereich, sprechen. Es ist ja so, dass wir im Grunde genommen immer in der Politik hinterherhinken und man sagt, oh ja, da müssen wir jetzt aber ein Gesetz machen und so weiter. Ich habe in Ihrem Buch "Trügerische Sicherheit" viele Aspekte gefunden, wo Sie immer wieder darauf hinweisen, Leute, seid vorsichtig, das hilft überhaupt gar nichts, zum Teil sind das auch wirklich nur Attrappen, die da aufgebaut werden. Vielleicht ein Wort noch dazu: Wir haben seit Jahren das Informationsfreiheitsgesetz, die Wahrheit ist aber: meistens wird man da blockiert mit irgendwelchen Ausreden. Sind da politische Initiativen eigentlich für die Katz?
    Schaar: Ich finde politische Initiativen sind dringend erforderlich, und insofern ist es wichtig, dass man genau solche Fragestellungen diskutiert und den Finger auch in die Wunde legen, da auch dann eine gewisse Handlungsfähigkeit entwickelt. Ein reiner Technikglaube ist genauso unsinnig wie die Reaktion, sich in die Ecke zurückzuziehen und zu sagen, die Technik ist des Teufels. Wir haben gerade im technischen Bereich viele Stellschrauben und viele Weichen, die gestellt werden müssen, die aber voraussetzen, dass diejenigen, die dann an den Hebeln sitzen, die dann entsprechend diese Stellschrauben bedienen müssen, auch zumindest ein Mindestmaß an Kompetenz haben, und das fehlt mir leider doch ein bisschen in der Politik. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass an den Spitzen der Behörden, an den Spitzen der Ministerien doch ganz überwiegend Menschen sitzen, die eher unserer Generation angehören und nicht der jüngeren Generation, die damit viel professioneller auch umgehen kann. Nicht alle machen das, aber zumindest ist diese Kenntnis, ist die Wissensbasis da doch häufig sehr viel besser.
    Burchardt: Vielleicht zum Schluss noch eine Frage, global gedacht: Wir haben einen US-Wahlkampf, der wird jetzt auch noch wieder im IT-Bereich aufgearbeitet, wo es nach wie vor doch Verdachtsmomente gibt, sage ich mal vorsichtig, dass der US-Wahlkampf, den Trump gewonnen hat, der auch im Wesentlichen von Russland aus beeinflusst worden sei. Wie ist da eigentlich noch dranzukommen, kann man da irgendwelche Kontrollmechanismus einsetzen? Wir sind ja nicht mal imstande im Augenblick, das aufgeklärt zu bekommen.
    Schaar: Also im Nachhinein ist das natürlich schwierig, zumal wenn derjenige, der davon profitiert hat, am Schalthebel sitzt, so wie das in den USA ist. In Großbritannien haben wir im Übrigen eine vergleichbare Situation gehabt. Neuere Untersuchungen des britischen Oberhauses belegen ja, dass auch bei Brexit genau dasselbe stattgefunden hat, und die britische Datenschutzbeauftragte hat gerade vor Kurzem einen Bericht vorgelegt, der genau diese These noch mal unterstützt, und die britische Behörde geht jetzt gegen einen der Hauptverantwortlichen – das ist die Firma Cambridge Analytica und die Personen, die da involviert waren – auch vor. Das finde ich erst mal ganz gut. Wir wirksam das ist, muss sich zeigen.
    Burchardt: Schlussfrage, Herr Schaar: Sie sind ja ausgestiegen, aber wenn ich Ihnen so zuhöre, dann sehe ich, dass Sie mittendrin stecken nach wie vor. Würden Sie heute den Job eines Datenschutzbeauftragten noch mal machen?
    Schaar: Also ob ich wirklich, sage ich mal, so lange im Datenschutz bleiben würde, wie ich dann das geblieben bin, auch für die Zukunft, das weiß ich nicht. Da bin ich eher ein bisschen zurückhaltend, aber ich glaube schon, dass das Thema eher an Bedeutung zunimmt, und insofern ist das wichtig, und insofern kann ich nichts bedauern. Im Gegenteil, ich finde, dass es wichtig ist, dass wir uns alle dafür einsetzen. Dann sage ich mir auch, oder sage ich, das habe ich schon als Datenschützer gesagt, als ich noch Bundesbeauftragter für den Datenschutz war: Datenschutz ist viel zu wichtig, um ihn den Datenschutzbehörden zu überlassen. Letztlich geht es darum, dass wir als Gesellschaft uns bewusst werden, dass Privatsphäre, die Frage, wie wir mit Technik umgehen und wie wir mit unseren Daten umgehen, einfach etwas ist, was für unser Leben, für unsere Gesellschaft von essenzieller Bedeutung ist und dass wir da nicht alleine irgendwelchen Versprechungen glauben, sondern dass wir da genauer hingucken und vielleicht auch ein Stück unser eigenes Verhalten kontrollieren oder ändern.
    Burchardt: Nun muss ich dann doch noch mal nachhaken, nämlich die aktuelle Frage, wie sehr kann man eigentlich Geheimdiensten in diesem Zusammenhang noch trauen?
    Schaar: Ich glaube, dass Geheimdienste nie unser Vertrauen verdient haben. Also um das mal ganz generell zu sagen. Geheimdienste sind vielleicht ein notwendiges Übel, aber die Vorstellung, dass ein Geheimdienst, gerade etwas, was außerhalb der Öffentlichkeit operiert, sozusagen eine Vertrauensinstanz ist, das würde ich nicht sagen, und das gilt leider auch für Geheimdienste demokratischer Staaten. Alle Geheimdienste dieser Welt haben Tendenzen zur Verselbstständigung, weil sie sich der öffentlichen Kontrolle weitgehend entziehen. Insofern ist das Entscheidende bei Geheimdiensten, dass sie politisch gesteuert und öffentlich, auch parlamentarisch, effektiv kontrolliert werden, und da sehen wir ja einen Mangel, wenn nicht mal die Bereitschaft da ist, diese Steuerungsfunktion einzunehmen. Genau das sehe ich gerade bei den jüngsten Diskussionen über die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Aufklärung von bestimmten Aktivitäten, die unsere Gesellschaft bedrohen.
    Burchardt: Herr Schaar, herzlichen Dank für dieses hochinteressante Gespräch. Ich wünsche Ihnen alles Gute und bis bald!
    Schaar: Ich danke Ihnen auch, Herr Burchardt!
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