Gewerkschaften

"Völlig falsche Richtung"

Bundespräsident Joachim Gauck spricht am 11.05.2014 zu Beginn des Bundeskongresses des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in Berlin zu den Delegierten und Gästen.
Lobende Worte: Bundespräsident Joachim Gauck spricht auf dem DGB-Bundeskongress © picture-alliance/ dpa / Rainer Jensen
12.05.2014
In der Krise habe man gut mit den Gewerkschaften zusammengearbeitet, sagt Gesamtmetall-Vizepräsident Stefan Wolf. Nun aber hätten die Arbeitnehmervertreter das Augenmaß verloren. Wolf kritisiert vor allem die Rente mit 63 und die Abkehr von der Agenda 2010.
André Hatting: Alle vier Jahre lädt der Deutsche Gewerkschaftsbund zum Bundeskongress. Im Mittelpunkt steht diesmal die Wahl eines Nachfolgers für den langjährigen Vorsitzenden Michael Sommer. Der verlässt den DGB in einer Zeit der Stärke. Wichtige Forderungen der Gewerkschaften hat die große Koalition übernommen – die Rente mit 63 oder den Mindestlohn zum Beispiel. Sehr zum Unmut der Wirtschaft. Der Verband Gesamtmetall hält die Rentenpläne der Regierung für einen Riesenfehler. Stefan Wolf ist der Vizepräsident von Gesamtmetall, also den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Wolf!
Stefan Wolf: Guten Morgen!
Hatting: Der Bundespräsident lobt auf dem Kongress den Beitrag der Gewerkschaften zum erfolgreichen deutschen Wirtschaftsmodell. Gesamtmetall spricht dagegen davon, dass die Gewerkschaften gerade mit der Bundesregierung auf einen Schlag verspielen, was wir in zehn Jahren mühsam aufgebaut haben. Was meinen Sie damit?
Wolf: Wenn Sie mal sehen, wie wir wettbewerbsfähig geworden sind in Deutschland durch die Agenda 2010, durch flexible Möglichkeiten, Arbeitsverhältnisse zu gestalten, und das wird alles jetzt zurückgedreht, dann glaube ich, dass das eben ein Weg in die völlig falsche Richtung ist.
Hatting: Also Rente mit 63, Mindestlohn, Bekämpfung des Missbrauchs von Werkverträgen – alles falsch, was die Gewerkschaften fordern?
"Wir brauchen Werkverträge und Zeitarbeit"
Wolf: Also sicherlich in der Form, wie es gefordert wird. Im Bezug auf das Thema Werkverträge sind wir uns einig, dass es natürlich den einen oder anderen Missbrauch gibt. Das sind aber Einzelfälle.
Wir brauchen die Instrumente wie Werkvertrag, auch die Zeitarbeit, um flexibel Arbeitsverhältnisse gestalten zu können. Und zur Rente mit 63 kann man natürlich nur sagen, wie haben lange gekämpft, dass wir die Rente mit 67 bekommen, und jetzt kommt eine große Anzahl von Menschen, die mit 63 in Rente gehen können. Die fehlen uns. Das kostet uns viel Geld, und die fehlen uns in den Arbeitsverhältnissen auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung. Also insofern eine völlig falsche Entwicklung in Deutschland.
Hatting: Das klingt jetzt ein bisschen so, dass immer dann, wenn die Gewerkschaften das machen, was die Wirtschaft will, also zum Beispiel Lohnzurückhaltung in Zeiten der Wirtschaftskrise – das hat ja dazu beigetragen, dass Deutschland nicht ganz so stark betroffen war wie andere Länder in Europa – oder auch wenig Streiks, da steht Deutschland international relativ weit hinten in der Statistik, dann sind die Gewerkschaften gut, ein Stabilitätsgarant. Aber dann, wenn sie ihre Forderungen durchsetzen, sind sie ein Störfaktor.
Wolf: Also das sehe ich nicht so. Zunächst mal, wir haben, glaube ich, eine gute Sozialpartnerschaft, es hat sich bewährt, das System Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften in Deutschland. Wir haben vieles erreicht, Sie haben es angesprochen. In der Krise haben wir gut zusammengearbeitet, haben es auch geschafft, praktisch alle Stammarbeitsplätze zu halten in Deutschland, sind gut durch die Krise durchgekommen. Es geht einfach darum, dass man die Dinge mit Augenmaß sieht. Und ich glaube, dieses Augenmaß ist im Moment so ein bisschen verloren gegangen, auch unterstützt natürlich durch die Politik der große Koalition. Da hat man gemerkt, man kann gewisse Dinge vielleicht durchsetzen.
Und das Prinzip der Sozialpartnerschaft ist ja eben, dass wir uns miteinander reiben, dass wir uns auseinandersetzen, dass wir gemeinsam Lösungen finden. Aber leider habe ich das Gefühl, dass in der letzten Zeit eben die Gewerkschaften, wenn sie mit uns vielleicht nicht so schnell vorankommen, immer sofort nach der Politik rufen und versuchen, die Dinge durch die Politik durchsetzen zu lassen, und das ist der falsche Weg. Denn diese Sozialpartnerschaft hat in den letzten Jahren gut funktioniert.
Hatting: Glauben Sie, dass damit auch die Tarifautonomie in Gefahr ist, weil die Gewerkschaft gerade über Bande mit der Politik spielt, statt mit Ihnen zu verhandeln?
Wolf: In der Gänze glaube ich das nicht. Trotzdem mahnen wir natürlich, und auch in den Gesprächen direkt mit unserem Sozialpartner bringen wir das Thema immer wieder auf. Es ist eben nun mal das Prinzip, und das ist grundgesetzlich geschützt in Deutschland, dass die Arbeitsbedingungen und Arbeitsthemen zwischen den Sozialpartnern verhandelt werden, und es kann eben nicht sein, dass dann, wenn man sich nicht durchsetzt, sondern wenn man vielleicht ein Ergebnis erzielt, das einem nicht zu hundert Prozent gefällt, dann versucht, über die Politik nachzubessern. Und da sehe ich im Moment gerade Bestrebungen, die nicht in die richtige Richtung gehen.
Hatting: Das scheint den Gewerkschaften im Augenblick auch zupass zu kommen, weil sie mit der SPD jetzt wieder jemanden in der Regierung haben, der den Zielen der Gewerkschaften gewogen ist. Das war aber unter der Regierung Schwarz-Gelb etwas anders.
"Es geht darum, Deutschland wettbewerbsfähig zu erhalten"
Wolf: Ja, sicherlich. Ich meine, die Situation ist natürlich besser, da kann man ganz offen drüber sprechen. Die Arbeitsministerin kommt ja nun aus dem gewerkschaftlichen Lager, hat da auch mal eine Zeit lang gearbeitet. Also die Dinge sind ihr nicht fremd. Allerdings glaube ich, müssen wir ein bisschen einen weiteren Blick haben als die nächsten fünf bis zehn Jahre.
Es geht darum, Deutschland wettbewerbsfähig zu erhalten, Deutschland langfristig wettbewerbsfähig zu halten, auch attraktive Arbeitsplätze, und dazu gehören eben auch, einfache Arbeitsplätze in Deutschland zu halten, dass die Menschen hier leben können, dass sie arbeiten können, dass sie hier ihrem Broterwerb nachgehen können. Und diese Dinge, die kommen mir im Moment gerade etwas zu kurz. Man denkt sehr kurzfristig, man versucht, ein bestimmtes Klientel zu bedienen, aber diese langfristige Aufstellung, wettbewerbsfähige Aufstellung des Standorts Deutschland tritt ein bisschen in den Hintergrund.
Hatting: Wobei ja gerade, wenn wir das Thema Mindestlohn noch mal angehen, die Gewerkschaften ja, oder die Politik vielmehr, auch Ausnahmen zugelassen hat. Also, die Wirtschaft hat ja immer gefordert, dass man zum Beispiel bei Saisonarbeitskräften Ausnahmen machen muss, dass man bei Rentnern Ausnahmen machen muss, und genau das ist ja auch passiert. Es ist ja nun nicht so, dass die Gewerkschaften eins zu eins ihre Ziele durchsetzt.
Wolf: Ich würde mal sagen, zu 95 Prozent. Die Ausnahmen, wenn Sie den Mindestlohn ansprechen, die sind natürlich marginal, und ich mache mal ein Beispiel: Wenn wir in Zukunft einen Praktikanten einstellen, der kein Pflichtpraktikum macht, was von der Uni vorgeschrieben ist, dann bekommt dieser Praktikant den Mindestlohn.
Wir haben dann wirklich eine Dreiklassengesellschaft, wir haben Auszubildende in unseren Betrieben, die eine vernünftige Ausbildungsvergütung kriegen. Wir haben Pflichtpraktikanten, die eine Praktikantenvergütung kriegen. Und dann, wenn wir das überhaupt noch tun – das ist eben die Frage, ob man das macht –, wenn wir freiwillige Praktikanten einstellen, die ein freiwilliges Praktikum machen, dann bekommen die irgendwas zwischen 1500 und 1800 Euro im Monat – und das kann doch sicherlich nicht sein.
Hatting: Stefan Wolf, Vizepräsident von Gesamtmetall. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Wolf: Sehr gerne, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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