Grell und erfrischend

19.06.2012
Viola di Grados bemerkenswertes Debüt "Siebzig Acryl, dreißig Wolle" vibriert vor Wut. Mit knirschenden Zähnen schildert die Ich-Erzählerin und Heldin Camelia Mega den Zusammenbruch ihrer Mutter nach dem Unfalltod des Vaters.
Es geht nicht nur um das Trauma des Verlustes. Der Vater hat rückwirkend alle Erinnerungen an das Familienleben vergiftet, denn er starb nicht allein, sondern raste mit seiner Geliebten in den Graben. Camelias Mutter Livia, zuvor eine erfolgreiche Flötistin, stellt das Sprechen ein, geistert nur noch im Schlafanzug durch das Haus in einem trostlosen Arbeiterbezirk von Leeds, verwahrlost zusehends und beschränkt sich darauf, Löcher und Risse mit einer Polaroid-Kamera abzulichten.

Die neunzehnjährige Camelia versorgt die verstummte Mutter mit Mahlzeiten, zerrt sie ab und zu unter die Dusche, verdient Geld mit Übersetzungen für eine italienische Waschmaschinenfirma, bis sie eines Tages den chinesischen Inhaber eines Kleiderladens kennen lernt, der Wen heißt und ihr Sprachunterricht gibt. Die chinesischen Schriftzeichen bieten ihr plötzlich ein paralleles Ausdrucksuniversum - ein Ausweg aus ihren Gefühlsverstrickungen und Gewaltphantasien sind sie nicht.

Viola di Grado, 1988 in Catania/ Sizilien geboren, Absolventin der Universität von Turin im Fach Orientalistik, Austauschstudentin in England, macht die Erfahrung der Dissonanz zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Diese Erfahrung spielt sie auf thematischer Ebene durch: Ihre Heldin zerschneidet fortwährend Kleider, verstümmelt Stoffe, fabriziert absurde Gewänder. Ihr Liebesleben flickt sie auf ähnlich chaotische Weise zusammen: Sie liebt Wen, aber hat Sex mit dessen verrückten Bruder. Dann ritzt sie sich mit einer Schere chinesische Schriftzeichen ins Bein. Durch ihre Herkunft aus Italien kommt sie weder mit dem Menschenschlag, noch mit dem Wetter, noch mit dem Essen in einen Gleichklang. Schließlich ist auch die Beziehung zu der bedürftigen Mutter von starker Ambivalenz geprägt.

Das Interessanteste an Viola di Grados Roman ist aber die Art und Weise, wie die Autorin die Dissonanz in Sprache und Struktur spiegelt. Sie verwendet eine bildhafte Sprache mit vielen Vergleichen, die zu dem extremen Gefühlszustand ihrer Heldin passt, manchmal an Punk erinnert, knirscht und rattert, aber etwas sehr Lebendiges hat.

Auch formal lässt sich di Grado einiges einfallen. Die Handlung schreitet spiralförmig voran, die Chronologie wird immer wieder unterbrochen. Wie ein Refrain tauchen Versatzstücke aus der Übersetzung der Wachmaschinenanleitung auf und werden zu Metaphern für die Lebenslage Camelias. Durch ihren sprachlichen und formalen Einfallsreichtum verleiht di Grado dem klassischen Thema - Individuation, erste Liebesenttäuschungen und Erwachsenwerden - einen anderen Dreh. Mitunter schlägt sie ein bisschen über die Stränge, dann übertreibt sie es mit überraschenden Wendungen und Winkelzügen. Aber sie liefert gerade keine windschnittig erzählte Fänger-im-Roggen-Variante, wie sie in Italien seit Ende der 90er Jahre Hochkonjunktur hat. Ihr Buch ist ähnlich widerspenstig wie die zerschnippelten Kleider, genauso grell und erfrischend.

Besprochen von Maike Albath

Viola di Grado: Siebzig Acryl, dreißig Wolle
Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
Luchterhand, München 2012
254 Seiten, 18, 90 Euro