Gregor Hens: "Die Stadt und der Erdkreis"

Die Stadt und wir

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Das Cover des Buches "Die Stadt und der Erdkreis" auf orangefarbenem Pastell-Hintergrund.
Eröffnet einen neuen Blick auf unseren Lebensraum: "Die Stadt und der Erdkreis". © Deutschlandradio / Die Andere Bibliothek
Von Carsten Hueck · 07.08.2021
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Wie nehmen wir die Stadt wahr? Wie nimmt sie uns wahr? Wird die Stadt ihre Bewohner vermissen, wenn sie eines Tages nicht mehr da sind? Gregor Hens erkundet unsere globale Städtewelt und findet dabei Erstaunliches, meint Kritiker Carsten Hueck.
"Urbi et orbi" lautet die traditionelle Segensformel, mit der jährlich der Papst Pilgern Ablass ihrer Sündenstrafen gewährt. Heutzutage kann man den Segen auch per Internet oder TV empfangen, die Pilgerreise erstreckt sich in diesem Fall auf ein paar Schritte im Wohn- oder Arbeitszimmer, Stadt und Erdkreis schnurren zusammen auf ein paar Quadratmeter.

Geschützter Ort der Konzentration und des Denkens

Auch der Schriftsteller Gregor Hens beginnt seine Erkundung von Stadt und Erdkreis in einem Innenraum. Doch statt den Blick zu verengen, weitet er ihn wieder, geht hinaus in die Stadt und die Welt.
Hens arbeitet bevorzugt im Lesesaal der Berliner Ibero-Amerikanischen Instituts. Die dort befindliche Bibliothek ist für ihn ein geschützter Ort der Konzentration und des Denkens, "der sich der zunehmenden Verwertung des öffentlichen Raums" entgegenstellt und selbst so etwas darstellt wie eine Stadt – mit Straßen, Wegmarkierungen, Knotenpunkten. Der Autor bewegt sich darin mithilfe von Büchern, Themen, Fußnoten und Schlagwörtern und verbindet sich in Gedankenschnelle mit anderen Städten.
Das ist das antreibende Prinzip seines Buches: Kraft seiner Imagination, seiner Empfindungsfähigkeit und seiner Lektüren gelingt es dem Autor, ein Netz zu spannen, dessen einzelne Fäden sich berühren und in die Weite erstrecken.
Folgt man ihm, so gelangt man im Nu von Berlin nach Havanna, nach Ottawa und Caracas, nach San Francisco und Buenos Aires. Manchmal muss man dafür nur einen Absatz lesen. Man trifft auf einen glühenden Simón Bolívar, auf Rem Kohlhaas und Michel Foucault, Künstler, Fotografen, Passanten. Gregor Hens übernimmt die Rolle des Fremdenführers, des Gelehrten und Reiseleiters, der dabei aber auch immer wieder selbst Entdeckungen macht.

Stadt, Land, Fluss bedingen einander

Architektonische oder geografische Gegebenheiten beeinflussen unser Erleben und Verhalten. "Psychogeografie" heißt das Verfahren, das die Identität von Städten erkundet. Erstmals 1956 von Guy Debord beschrieben, geht es davon aus, dass Straßen oder Gebäude, Bauwerke oder Parks, Parkplätze oder Sackgassen eine eigene Geschichte haben, die sich über aufmerksames und hinterfragendes Beobachten als eine Art Logik der Stadt offenbart.
"Wir müssen Stadt, Land, Fluss, dieses alte Spiel, ganz neu und anders denken, nicht als getrennte Kategorien, sondern als etwas, das ineinander spielt, das sich gegenseitig bedingt und miteinander verschmilzt", proklamiert der Autor.

Hens eröffnet neue Blicke auf unseren Lebensraum

Gregor Hens Buch ist ein beeindruckendes Unternehmen, einerseits spielerisch leicht, mitunter traumwandelnd und die Gesetze von Raum und Zeit aufhebend. Dann wieder wissensprall, detailverliebt und gelehrt. Es ist eines der Bücher, bei denen man etwas lernen kann, das Anregungen gibt, selbst weiterzuforschen, das neugierig macht.
Es ist reich bebildert, Essay, Reisebericht, Autobiografie und Lektüreliste in einem. Ein dichtes Gewebe, in das auch die Erfahrung der menschenleeren Stadt während der Coronazeit mit eingegangen sind. Ein Buch, das neue Blicke eröffnet auf unseren Lebensraum und auch auf die eigene Biografie. Denn es animiert auch Orte der Vergangenheit erneut aufzusuchen und vielleicht mit einem anderen Blick wahrzunehmen.

Gregor Hens: "Die Stadt und der Erdkreis. Eine Erkundung"
Berlin, Die Andere Bibliothek, 2021
306 Seiten, 44 Euro

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