Gratwanderung

Von Josefine Janert · 27.11.2010
Viele Menschen betrachten die Kirche nicht als Gotteshaus, sondern als Sehenswürdigkeit. In manche Kirchen kommen weit mehr Touristen als Gottesdienstbesucher. Die Pfarrer könnten sich darüber freuen, dass es so viele Besucher gibt. Doch lassen diese sich auch für Gott begeistern?
Vor der Frauenkirche in Dresden treffen sich Touristen. Ein Paar beugt sich über einen Reiseführer. Ein junger Mann fummelt an seiner Kamera herum. Rund 10 Millionen Menschen haben das Bauwerk seit seiner Wiedereinweihung im Jahr 2005 besichtigt.

Christoph Wetzel: "Liebe Gäste der Frauenkirche! Wir laden Sie ein, kurz inne zu halten und Platz zu nehmen ..."

Auch jetzt sitzen Besucher in den Bänken oder schlendern herum, bewundern architektonische Details. Christoph Wetzel ist auf die Kanzel gestiegen, ein hagerer, älterer Herr mit Brille. Der pensionierte Pfarrer ist einer der vielen ehrenamtlichen Kirchenführer. Seine Stimme übertönt das Gemurmel, das schnell verebbt.

Christoph Wetzel: "Wir wollen einen Augenblick der Andacht, Besinnung, des Insichgehens halten."

Die Frauenkirche ist weltbekannt. Weil sie im Februar 1945 in Schutt und Asche fiel. Weil sie dank des großartigen Einsatzes der Dresdner wieder aufgebaut wurde. Weil sie heute so wunderschön ist – und ein Mahnmal gegen den Krieg. Es gibt viele Gründe, die Frauenkirche zu besuchen. Wollen sich die Besucher auch auf das Spirituelle einlassen? Christoph Wetzel sagt nach der Führung:

"Ich war ursprünglich ein Gegner des Wiederaufbaus. Und erst im Verlauf der Ereignisse, wie diese Zustimmung und das Engagement immer stärker wurde, hab ich darin auch einen Sinn gesehen. Dass Menschen aller Kulturen, aller Religionen in diesem Gotteshaus etwas Besonderes erleben. Das wird nicht das sein, dass sie hier gleich Christen werden, aber man kann ja auch an Gottesdiensten teilnehmen. Wir haben jeden Tag zwei Andachten, wo das Christliche ganz besonders herauskommt. Aber auch sonst – die Kirche ist eigentlich für alle Menschen offen und soll das, was da zu sehen ist, was da an Stimmung rüberkommt, das soll den Menschen gut tun."

Geht das? Finde ich als Tourist Ruhe, wenn draußen schon der Bus wartet? Wenn ich an diesem Tag schon so viel erlebt und noch viel mehr vorhabe? Anja Häse ist Referentin für den Besucherdienst.

"Ich denke, dass die Leute, die die Kirche einfach nur mal sehen wollen oder vielleicht einfach, wenn sie ihren Reiseführer abarbeiten möchten, weil dann die Frauenkirche ein Besichtigungspunkt ist, dennoch vielleicht ein unbewusstes tieferes Sehnen haben nach einem Raum, den sie aufsuchen, der eben ganz anders ist als ein Museum oder jeder andere Raum. Ein geistlicher Raum, vielleicht ein heiliger Raum – und so wird die Frauenkirche ja auch erfahrbar."

Damit die Menschen Ruhe finden, stellt die Gemeinde Regeln auf. Als Piktogramme hängen sie neben den Kirchentüren. Bitte kein Eis mitbringen und keine Hunde. Bitte das Mobiltelefon ausschalten und die Kamera drinnen nicht benutzen. Diese Regeln auch durchzusetzen, ist für Anja Häse nicht selten eine schwierige Gratwanderung.

"Wir möchten die Besucher nicht reglementieren und disziplinieren. Wir möchten, dass sie sich in dem Raum einfinden. Und deswegen, denke ich, ist die Toleranzgrenze sehr hoch."

Holger Treutmann ist Pfarrer in der Frauenkirche.

"Immer wieder klingelt mal ein Handy. Das ist bei mehreren hundert Besucher natürlich auch nicht ganz zu vermeiden. Wir weisen darauf hin, dass eine Kopfbedeckung in der christlichen Kirche in der Regel abzunehmen ist, aber versuchen das eben auch ohne großen Nachdruck zu vermitteln. Uns kommt es mehr darauf an, Menschen in die Kirche einzuladen und ihnen ein Gefühl dafür zu geben, dass dieser Raum ja selbst schon einen Charakter hat, in dem man sich bewegt und sozusagen dann auch in Spannung zu stehen kommt, wenn man sich in ihn hineinfühlen will. Also ich würde mich freuen, wenn jeder, der in die Frauenkirche kommt, am Ende etwas friedvoller die Kirche wieder verlässt, denn sie ist ja ein Symbol für Frieden und Versöhnung."

In der katholischen Hedwigskathedrale in Berlin hat Roswitha Sauer die Mittagsmeditation vorbereitet. Diese kurze Andacht findet um 12 Uhr statt. Sauer ist ebenfalls Kirchenführerin. Allerdings ist sie festangestellt.

Roswitha Sauer: "Um überhaupt unsere Angebote aufrecht halten zu können, brauchen wir diesen Raum, das ist einigermaßen Ruhe und Stille. Der Kirchenraum kann sich sonst nicht erschließen, wenn er von der Geräuschkulisse wirkt wie ein Hauptbahnhof. Denn Räume der Stille werden ja auch von vielen gewünscht. Die Kirche kann das sein, wenn die Besucher mitmachen und das zulassen."

Da die Hedwigskathedrale mitten in Berlin steht, kommen viele Besucher. Roswitha Sauer freut sich sehr darüber. Sie beobachtet allerdings, dass viele Menschen gar nicht mehr wissen, was eine Kirche ist und wie man sich darin benimmt. Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands stellt sie dabei ebenso wenig fest wie zwischen Deutschen und Besuchern, die aus anderen Kulturen und Nationen kommen.

Roswitha Sauer: "Es gibt ein paar Schriften von der Deutschen Bischofskonferenz, wie man heute Kirche ist angesichts dieses Atheismus. Und eines heißt: offene Kirchen, brennende Kerzen, deutende Worte. Und eben diese deutenden Worte sind so wichtig. Und deswegen haben wir ein paar Angebote installiert, die eigentlich für jedermann verständlich sind. Ich glaube, der klassische Gemeindegottesdienst ist für einen, der ihn nicht kennt, wirklich zu viel, das wäre Überfülle."

Wenn Schüler mit ihrem Lehrer zum ersten Mal in ihrem Leben ein Gotteshaus betreten, dann erklärt ihnen Roswitha Sauer nur allzu gern, was etwa ein Altar ist. Und warum in dem Becken neben dem Eingang Wasser ist. Allerdings erbittet sie sich Respekt.

Roswitha Sauer: "Ach, vertraut ist, wenn ich jemanden bitte, die Mütze abzusetzen, das mach ich meistens nur durch ne Geste, durch n Lächeln, dass manche wirklich schauen und auf dem Fuß umdrehen und die Kirche verlassen. Oder manch einer sagt noch: Nö, dann geh ich lieber raus. Andere fragen, warum, und dann ergeben sich schöne Gespräche. Aber das ist ein Beispiel dafür, dass so ne kleine Regel schon nicht akzeptiert wird, weil sie eingreift in – wahrscheinlich – das Freiheitsempfinden. Das schlimmste Wort, mit dem ich einmal tituliert wurde, ich glaube, als ich jemanden um Ruhe bat, war Kirchenzicke. Wir müssen einen Modus Vivendi finden, der allen irgendwie gerecht wird.""