Graphic Novel

Japan in Schrittlängen

Von Frank Meyer · 30.12.2013
Ein Jahr im Leben des Landvermessers Ino Tadataka erzählt Jiro Taniguchi in seinem neuesten Comic. "Der Kartograph" entfaltet mit seinen wunderbar detaillierten Zeichnungen eine meditative Kraft.
Jiro Taniguchi gilt als Europäer unter den japanischen Comic-Künstlern, als Poet der Langsamkeit. In den 1970er-Jahren zeichnete der 1947 geborene Taniguchi noch ganz andere Geschichten, Genrecomics, Kriminal- und Boxerstorys. Aber dann entdeckte er neue Themen für sich. In den 1980er-Jahren nahm er ein für einen Mangaka ungewöhnliches Projekt in Angriff, eine Reihe von Büchern über das intellektuelle Leben im Japan des 19. Jahrhunderts. In diese Zeit ist Jiro Taniguchi nun auch mit seinem neuen Buch zurückgekehrt.
"Der Kartograph" geht von einer realen Figur aus, von Ino Tadataka, einem Landvermesser, der im frühen 19. Jahrhundert die erste vollständige und erstaunlich exakte Karte von Japan gezeichnet hat. Jiro Taniguchi hat sich diese Figur radikal anverwandelt, er hat Ino Tadataka in seinen Kosmos von Tagträumern und Spaziergängern hineingeholt. Eines der bekanntesten Bücher von Taniguchi ist "Der spazierende Mann" von 1992. Eine Folge grandioser poetischer Miniaturen, die fast ohne Sprache auskommen und das Wunder des Lebens in kleinsten Details aufspüren.
Sein Kartograph ist nun ein Wiedergänger des "spazierenden Mannes", aber einer, der fast 200 Jahre früher unterwegs ist, im Edo des Jahres 1800, dem heutigen Tokio. Ino Tadataka war früher Kaufmann, jetzt ist er Pensionär, aber er hat ein großes Projekt: die Vermessung Japans per Pedometrie, nach Schrittlängen. Man lernt ihn in diesem Buch beim Training kennen, Tadataka will erreichen, dass jeder seiner Schritte zuverlässig zwei Shaku und drei Sun misst, 70 Zentimeter. Ein genaues Schrittmaß ist die Bedingung für sein Vermessungsprojekt. Der reale Ino Tadataka hat am Ende seines Kartographierungsprojektes fast 35.000 Kilometer zurückgelegt, den größten Teil davon zu Fuß.
Fluchtpunkt Natur
Jiro Taniguchi nutzt die Trainingseinheiten von Ino Tadataka für eine Begehung der Shogunstadt Edo. Tadataka schreitet Brücken und Flüsse ab, beim Kirschblütenfest durchwandert er die blühenden Hügel, er pilgert zu Schreinen und Observatorien. Eine sehr geschäftige Stadt umgibt ihn, Kinder spielen auf den Straßen, Händler rufen, aber die hektische Szenerie wird durchpulst vom langsamen Takt der Schritte Tadatakas. Oft sind seine Schrittzahlen der einzige Inhalt der wenigen Sprechblasen. Fast meditativ wirkt auch der grafische Aufbau, die regelmäßige Abfolge der Panels, die klaren Kanten der flächigen Figuren, die streng geometrischen Formen der Häuser und Stadtlandschaften. Oft sind sie wunderbar detailliert gezeichnet, aber auch die Einzelheiten scheinen sich einer klaren Ordnung zu unterwerfen.
Alle 15 Kapitel des Buches sind nach Naturphänomenen benannt: "Der Milan", "Der Wal", "Die Leuchtkäfer", und so weiter. Ino Tadatakas Wanderung durch das Edo des Jahres 1800 ist auch ein Streifzug durch die Kultur dieser Zeit. Er kommt mit Dichtern und Malern ins Gespräch, zitiert Haikus und Theatertexte. Der Fluchtpunkt bleibt aber die Natur, in die er als Vermesser Japans hinausziehen wird. Von einem Jahr im Leben des Kartographen erzählt Jiro Taniguchi in diesem Buch, das sehr episodisch bleibt, kaum eine Handlung entfaltet, aber dafür, typisch Taniguchi, eine starke atmosphärische Kraft entwickelt.

Jiro Taniguchi: Der Kartograph
Aus dem Japanischen von John Schmitt-Weigand
Carlsen Verlag, Hamburg 2013
220 Seiten, 16,50 Euro

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