Krimis in der Kirche
In Gelsenkirchen-Resse hören die Gottesdienst-Besucher nicht nur Bibeltexte. Die Gemeinde hat eine Krimiautorin der Stadt zur Lesung eingeladen. Ein Versuch, neue Besucher anzulocken.
Das "Tatort"-Motiv ist für viele Menschen hierzulande ein fester Bestandteil des Sonntagabends. Im ökumenischen Gemeindezentrum St. Ida in Gelsenkirchen-Resse erklingt die bekannte Melodie an diesem Sonntag schon neun Stunden früher - als Orgelvorspiel zum Krimi-Gottesdienst, den die evangelische Christus-Gemeinde veranstaltet. Anstatt einer Predigt gibt es heute Buchtexte von der Gelsenkirchener Autorin Tanja Bern zu hören. Sie hat Auszüge aus ihrem Krimi-Roman "Ruf der Geister" mitgebracht.
"Steine zerkratzen ihre Haut. Sie war zu geschockt, konnte nicht einmal schreien. Der Turm - so bedrohlich in der Nacht. Sie bekam keine Luft. Ihr Schrei hallte so laut in Joshuas Gedanken, dass er sich instinktiv die Ohren zuhielt."
Aufhänger für die außergewöhnliche Literatur-Auswahl war ein Wettbewerb der evangelischen Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes. Darin wurden Gemeinden aus ganz Deutschland eingeladen, biblische und literarische Texte im Gottesdienst so aufeinander zu beziehen, dass ein neuer Blick auf Fragen des Lebens und Glaubens entsteht. Pfarrer Eckehard Biermann:
"Es ist so, dass wir einen Gottesdienstarbeitskreis in unserer Gemeinde haben. Und den konnten wir dafür begeistern, nicht nur die Lektorenpläne festzulegen, sondern auch mal inhaltlich zu arbeiten. So haben wir uns dann dieses Buch herausgesucht, weil es auch eine Anbindung hier an die örtlichen Gegebenheiten hat, weil es ein Krimi war und ganz viele theologische Fragestellungen da eine Rolle spielten."
Ein Serienmörder und Parallelen zum Buch Jesaja
Der heutige Gottesdienst steht ganz bewusst unter dem Oberthema "Vergebung". Denn leider ist es nicht immer leicht, anderen Menschen zu vergeben. Zum Beispiel, wenn man plötzlich erfährt, dass ein guter Freund Morde begeht. So erlebt es Sozialarbeiter Joshua, der Protagonist in "Ruf der Geister". Joshua freundet sich eines Tages mit dem zehnjährigen Marc an, der unter traumatischen Erfahrungen, wie etwa den Misshandlungen durch seine Schwester, leidet.
"'Hol mir mal was zu trinken!‘ 'Hol dir das doch selbst‘, wagte der Kleine zu rebellieren. Seine Schwester fuhr auf, der Junge wich zurück. Sie stieß ihn an die Wand. Ihre Hand klammerte sich um seine Kehle. 'Du holst mir was!‘ Panik stieg in dem Jungen auf. Er bekam keine Luft."
Diese negativen Kindheitserinnerungen lassen Marc Jahre später zum Serienmörder werden. Joshua erfährt davon, lässt seinen Freund aber nicht im Stich. Somit stellt die Geschichte eine Parallele zur anschließenden Bibellesung aus dem Buch Jesaja dar. Hier wird Jesus als "Knecht Gottes" entsandt, um das gesamte Volk Israel zu retten:
"Ich, der Herr habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand und behüte dich. Und mache dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden. Dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen. Und die da sitzen in der Finsternis aus dem Kerker."
Die Frage, unter welchen Umständen Vergebung überhaupt möglich ist, möchten die Organisatoren bei einem Couchgespräch innerhalb des Gottesdienstes diskutieren. Autorin Tanja Bern argumentiert mit der Handlung ihres Buches:
"Joshua konnte es auf jeden Fall, weil Marc sein Vertrauter war und er mit ihm aufgewachsen ist und er natürlich im Nachhinein auch verstehen konnte, warum diese Morde geschehen sind. Ich denke aber auch, bei ihm kommt es auf die jeweilige Situation an. Ich kann mir vorstellen, wenn er manchmal misshandelte Kinder sieht, er ist ja Streetworker, dass er da auch durchaus mal Schwierigkeiten hat, den Eltern sofort zu verzeihen."
Die Besucher sind begeistert
Pfarrer Eckehard Biermann spricht aus beruflicher Erfahrung:
"Ich bin auf Vergebung als Mensch angewiesen, dass andere mir auch verzeihen, wenn ich Fehler mache. Aber ich selber habe dann natürlich auch anderen zu vergeben. Ich denke, da ist man immer wieder neu herausgefordert, damit das, was man auf der Kanzel erzählt, sich auch im wirklichen Leben wiederfindet."
Erwin Mosel vom Arbeitskreis Gottesdienst hingegen steht dem Thema Vergebung eher kritisch gegenüber:
"Vergebung ist leicht ausgesprochen. Aber es heißt ja: Vergeben, nicht vergessen. Wie ernst gemeint ist es denn dann mit der Vergebung? Ich denke schon, dass wir da stark drüber nachdenken sollten."
Die Christus-Gemeinde hofft, mit ihrem heutigen Literaturgottesdienst zum Nachdenken angeregt zu haben - und natürlich darauf, den Gottesdienst-Wettbewerb zu gewinnen.
Selbst wenn der mit 2.500 Euro dotierte Preis nicht nach Gelsenkirchen-Resse gehen sollte, können die Beteiligten mit dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden sein. Den Besuchern hat es gefallen:
"Schon das Orgelvorspiel mit dem Motiv aus dem Tatort hat mich schnell hineingenommen in diese ganz andere Atmosphäre. Und die Gruppe hat sich sehr viel Mühe gegeben, dieses Thema der Vergebung anhand des Textes herauszustellen."
"Mir persönlich hat es sehr gut gefallen, dass die Autorin, die das Buch geschrieben hat, auch selber dazu Stellung genommen hat und ihre Gedankengänge erläutert hat."
"Vergebung ist natürlich ein ganz großes Thema auf allen Ebenen. Natürlich nicht immer auf dem Niveau, dass man jemanden umbringt und dann vergeben muss. Aber im Alltag hat man ja viele Begegnungen. Und da muss man auch regelmäßig Kleinigkeiten vergeben, das ist ganz wichtig."