Gotha

Mit Feuerbestattung gegen den Auferstehungsglauben

Hunderte Urnen stehen im sogenannten Columbarium (Urnenhain) des Städtischen Krematoriums Gotha. Im Vordergrund: die Urne der hier eingeäscherten Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner.
Hunderte Urnen stehen im sogenannten Columbarium des Städtischen Krematoriums Gotha. Im Vordergrund: die Urne der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner. © picture alliance / ZB / Ralf Hirschberger
Von Adolf Stock · 04.01.2015
Nirgendwo in Deutschland werden so viele Verstorbene eingeäschert wie in Gotha – das hat in der protestantischen Stadt in Thüringen eine lange Tradition. Die katholische Kirche erlaubt das Verbrennen von Leichen erst seit rund 50 Jahren.
1873 wurde auf der Wiener Weltausstellung ein Leichenverbrennungsapparat vorgestellt. Vielleicht beginnt hier ganz konkret die Geschichte der europäischen Feuerbestattung im 19. Jahrhundert. Schon ein Jahr später experimentierte die Firma Siemens in Dresden mit einem Verbrennungsofen, der eigentlich für die Glasindustrie entwickelt worden war.
Es war ein Tabubruch, denn Leichenverbrennung war im Abendland über Jahrhunderte kein Thema, sagt Professor Jochen-Christoph Kaiser, der bis 2013 kirchliche Zeitgeschichte in Marburg lehrte:
"Seit 785 war das im europäischen Kulturkreis durch einen Beschluss des Reichstags von Paderborn verboten und zwar bei Todesstrafe verboten, damit wollte man heidnische Bräuche eliminieren und zwar mit Tabula rasa, total, weil die Germanen das eben gemacht hatten, darüber redete man eigentlich auch nicht, und das war dann also erledigt."
Nicht ganz, denn schon während der Französischen Revolution hatten linke Revolutionäre versucht, eine neue Religion zu gründen. Der "Kult des höchsten Wesens" sollte Juden- und Christentum als Staatsreligion ersetzen, dabei wurde die Feuerbestattung zum Kampfmittel gegen den Auferstehungsglauben.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Leichenverbrennung auch im deutschsprachigen Raum ein Thema. Mit dem Erstarken des Bürgertums war ein liberales, vernunftbetontes Denken auf dem Vormarsch, das die Bevormundung durch Religion nicht akzeptieren wollte.
Die thüringische Stadt Gotha sollte eine herausragende Rolle bei der Feuerbestattung spielen. Hier fand 1874 die erste Einäscherung auf deutschem Boden statt. So erzählt es Matthias Wenzel, Vorsitzender des Vereins für Stadtgeschichte:
"Man hat da eben wirklich einen alten Zopf abgeschnitten und natürlich, die katholische Kirche hat da ganz schön angekämpft."
"Das älteste Krematorium in ganz Europa"
Das protestantische Gotha hatte einen fortschrittlichen Landesherrn. Seit 1852 gab es Versammlungsfreiheit. Das bürgerliche Leben konnte sich frei entfalten, was auch Freidenkern und Sozialdemokraten zugutekam, die sich für die Feuerbestattung einsetzten.
"Dieser Feuerbestattungsverein, der sich wohl 1874 gegründet hat, der war wirklich sehr progressiv und hat dazu geführt 1878, das erste deutsche – und wenn man Mailand jetzt mal, was zum Anfang nicht so richtig funktioniert hat, noch außer Acht lässt – dann wäre es sogar das älteste Krematorium in ganz Europa."
In Italien war der Diskurs um die Feuerbestattung klar gegen die katholische Kirche gerichtet. Der Vatikan hatte mit den Dogmen von der Unbefleckten Empfängnis und der Unfehlbarkeit des Papstes Positionen bezogen, die auf den erbitterten Widerstand der Befürworter der Feuerbestattung trafen. Im Dezember 1886 verbot Papst Leo XIII. den Katholiken die Feuerbestattung und die Mitgliedschaft in einem Feuerbestattungsverein. Infolge des 2. Vatikanischen Konzils wurde 1964 das Verbrennen der Leichen von Rom erlaubt.
Die Protestanten folgten in aller Regel den politischen Vorgaben des jeweiligen Landesherrn, denn aus theologischer Sicht war die Feuerbestattung eigentlich kein Problem. Schließlich hängt die Auferstehung nicht von der körperliche Beschaffenheit des Menschen auf Erden ab.
"Es hindert nicht daran, in den Himmel zu kommen, um es einfach zu formulieren, wenn man verbrannt wird oder einer Erdbestattung anheimfällt. Das ist eine ganz merkwürdige, primitiv materialistische Vorstellung, dass mit der Verbrennung des Leibes die Auferstehung am Jüngsten Tage sich erledig hätte, das ist religionswissenschaftlich ausgesprochen kurz gedacht, um es freundlich zu formulieren, das hat damit nichts zu tun. Und die Kirchen und auch kluge Theologen, die sehen das also sehr schnell und stellen den Kampf auf diesen Platz ein."
"Hier vorne findet dann die Kühlung statt"
"Der Gebäudekomplex wurde 1878 errichtet. Da sehen wir zum einen die Feierhalle mit dem darunterliegenden Krematorium, davor ist der Säulengang, und später, 1882, wurde da die Urnenhalle, das sogenannte Kolumbarium angebaut. Und hier vorne in dem Bereich findet dann die Kühlung statt."
Claudia Heß führt durch die Urnenhalle in Gotha. Man denkt an Paris des Fine de Siècle, an einen noblen Festsaal mit gläserner Kuppel. Hier stehen die Aschengefäße nicht in engen Nischen, sondern auf Sockeln wie in einem Amphitheater. Eigentlich würde man sich nicht wundern, wenn die prächtig verzierten Urnen miteinander in Gespräch kommen würden, oder sich zum Tanz auffordern.
"Wir können noch einmal hier vorne schauen, da ist nämlich die Urne von demjenigen, der als erster hier eingeäschert worden ist. Der Karl-Heinrich Stier ist ein Jahr, bevor das Krematorium errichtet worden ist, verstorben und wurde erst einmal beigesetzt und hat aber testamentarisch verfügt, dass er der ersten Mensch sein will, der eingeäschert wird."
In den folgenden Jahren kam es zu einem regelrechten Leichentourismus. Viele österreichische Offiziere wurden in Gotha verbrannt, weil das in der k.u.k. Monarchie nicht möglich war.
"Es kamen Leichen aus aller Welt, viele blieben auch hier und viele wurden auch wieder in ihre Heimatorte versandt. Da haben wir ja hier so ein Buch, wo man das alles nachschauen kann."
Was geschieht mit der Asche der Verstorbenen? Darf sie mit nachhause genommen werden? Sollte man sie in alle Winde verstreuen? Mit solchen Fragen haben sich staatliche Stellen und Theologen im 19. Jahrhundert beschäftigt. Heute ist es Konsens, dass die Asche der Toten analog einer Leiche respektiert und behandelt wird.
Mental blieben oft Vorbehalte
Wenn manchmal auch zähneknirschend, nahmen die Protestanten die neue Bestattungsform hin. Allerding diskutierten sie heftig liturgische Fragen. Darf bei der Totenfeier das Verbrennen erwähnt werden? Sollte ein Pfarrer den Kontakt mit der Urne meiden? Die Antwort fiel meist pragmatisch aus. Doch mental blieben oft Vorbehalte, auch weil der gekreuzigte Jesus auferstanden ist und sein Grab am dritten Tag als Mensch unversehrt verlassen konnte. Und so hatten viele Christen bei der Feuerbestattung ein unangenehmes Gefühl. Kaiser:
"Nach dem Motto: Für mich kommt das nicht infrage, aber wenn Du das unbedingt willst. Also, das ist zwar ein bisschen komisch, aber ... Und das hat lange gedauert, das sind ja mentale Prägungen. Das machen wirklich nur Leute, die das dezidiert wollen und zwar eben aus einer Palette von Gründen, die aber nicht – und ich glaube, das ist das Entscheidende – die nicht religiös konnotiert sind."
Jenseits der Religion fanden sich viele Gründe für eine Feuerbestattung: Mediziner meldeten sich zu Wort, die in der Bestattung von Leichen ein Gesundheitsrisiko sahen. Mit der Feuerbestattung war es auch nicht mehr möglich, lebendig begraben zu werden. Eine weit verbreitete Angst damaliger Zeitgenossen. Trotzdem ein fragwürdiges Argument, denn schließlich konnte man ja auch scheintot im Verbrennungsofen landen. Und überhaupt: Öffnet die Feuerbestattung dem Verbrechen nicht Tür und Tor? Konnten im Krematorium nicht Spuren von Gewalttaten beseitigt werden, gaben Kriminalisten zu bedenken.
Trotzdem blieb die Feuerbestattung über lange Jahrzehnte ein Randthema bürgerlicher Kreise. Mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Situation. Als kaisertreue Kriegsbefürworter bekamen die Kirchen nach der militärischen Niederlage ein veritables Imageproblem, sagt Jochen-Christoph Kaiser:
"Wir haben riesige Kirchenaustrittszahlen zwischen 1918 und 1930, bis zu 250.000 Leute im Jahr. Und viele dieser Leute lassen sich auf die Freidenkerverbände ein, weil eben diese auch sehr preisgünstige Feuerbestattungsversicherungen anbieten. Also die hatten vorher, bis 1918, vielleicht so 5.000 bis 6.000, 7.000 Mitglieder im Reich und plötzlich dann um 1930/32 600.000. Das ist zwar immer noch nicht die Masse der Leute, aber es ergreift sozusagen ein bestimmte Milieu."
Heute mehr denn je eine individuelle Frage
Die religiösen Bindungen hatten sich gelockert, doch auch jetzt blieben viele Feuerbestattungskassen weltanschaulich neutral, und nur wenige verlangten den Kirchenaustritt, das hat Professor Kaiser in Archiven von Amsterdam bis Breslau akribisch recherchiert.
In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden in Gotha drei Viertel aller Verstorbenen eingeäschert. Heute ist der Anteil auf über 90 Prozent angestiegen. Das ist auch für Ostdeutschland Spitze. Der Schnitt liegt dort bei gut 75 Prozent, das sind doppelt so viel Feuerbestattungen wie in den alten Bundesländern.
Wie möchte man selbst von der Welt Abschied nehmen? Urne oder Grab, das ist heute mehr denn je eine individuelle Frage. Staatliche oder religiöse Vorschriften gibt es nicht mehr, obwohl christliche Tradition manchmal noch eine Rolle spielt, so wie bei Professor Kaiser, der in einem protestantischen Pfarrhaushalt groß geworden ist.
"Ich würde sagen, in der Tradition meiner Familie, wo sich noch nie einer hat verbrennen lassen, habe ich auch kein Interesse daran. Es gibt Leute, die das irgendwie als einen bestimmten Ausdruck von Modernität oder so empfinden oder die gerne was anders machen, und dann machen die eben was anders, nicht? Es gibt ja Leute, die sind 50 Jahre mit derselben Frau verheiratet, und andere müssen alle fünf Jahre die Frau wechseln. Ich meine, das ist, ja, das gehört zu deren Lebensstil, wobei man ja nicht sagen kann, wer nun Recht hat und wer nicht."
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