Good old Germany

Von Hans Ulrich Gumbrecht · 11.12.2005
Seit ich in Kalifornien wohne (und mit steigender Frequenz), erreicht mich über die verschiedensten Medien-Kanäle Post aus "good old Germany". Um peinliche Verwechslungen gleich auszuschließen: Ich zitiere die englischen Wörter - denn mir selbst käme es nicht in den Sinn, das Land, in dem ich geboren bin, so zu nennen. "Good old Germany" - fühlt sich das nicht an wie aufwallend laue Wärme aus der ungelüfteten Wohnküche, mit mehr als einem Hauch von Sauerkraut und Bier?
Es mag ja wahr sein, dass vor gut 50 Jahren ein paar Tausend amerikanische Soldaten das Klima der Wohnküchen in ihrer Besatzungszone so gerne hatten wie die Formen der zeitweilig unbemannten Frauen, die dort am Herd standen. Aber daran können sich nur die allerwenigsten von denen erinnern, die mich aus "good old Germany" grüßen. Deshalb befürchte ich, sie unterstellen, dass die von diesen Worten heraufbeschworene, scheinbar freundliche Lau-Wärme den Gefühlen entspreche, welche die Welt im frühen 21. Jahrhundert Deutschland entgegenbringt.

Müssten sie sich nicht eher klar machen, dass man Deutschland zwar mit seiner "alten" Geschichte und auch mit "guten" Erinnerungen (an Gemütlichkeit hinter Butzenscheiben oder auf dem Oktoberfest) assoziieren kann, aber gewiss nicht mit einer Vergangenheit, die eine gute im Sinne einer Sympathie weckenden Vergangenheit war?

Möglicherweise ist diese Frage nun wieder allzu moralistisch, zu sehr geformt von dem schlechten Gewissen meiner eigenen deutschen Generation, die beschloss, für ihre Vor-Geschichte Verantwortung zu tragen, weil die Täter unwidersprochen in Anspruch nahmen, sich an nichts zu erinnern. Doch selbst wenn es zuviel verlangt sein sollte, auf ein selbstkritisches Verhältnis zur nationalen Geschichte zu setzen, bliebe ich dabei, dass es zuwenig ist, das eigene Land und die eigene Kultur einfach nur "gut und alt" zu finden.

Vielleicht ist das neue deutsche Selbstbild – nach Jahrhunderten wahnwitziger Träume von der eigenen Größe und nach Jahrzehnten der gegenläufigen kollektiven Reue – nun ein Selbstbild geworden, das sich sympathisch bescheiden gibt, so als ob es zufrieden sei mit der eigenen Mittelmässigkeit. "Good old Germany", das klingt auch wie die Erinnerung an jenen Schulfreund, den man etwas verlegen einen "feinen Kerl" nennt, weil einzig und allein haften geblieben ist, dass er fast unsichtbar irgendwo in den mittleren Bänken saß. Ist Deutschland zu jenem vorbildlich europäischen Land in der Mitte des Kontinents geworden, weil nicht aufzufallen nun schon etwas zu lange sein Haupt-Ehrgeiz gewesen ist? Hat jenes Deutschland, das sich so laut wie alle anderen Länder über Amerika entrüstet und das die vage Existenz des Völkerrechts vorbildlich ernst nimmt, Anerkennung gefunden als eine auf Frieden spezialisierte Nation?

Das neue Deutschland, da gibt es keinen Zweifel, heimst für seine selbstzufriedene Bescheidenheit breites Lob ein von der internationalen Gemeinschaft der politisch Korrekten. Nur überhört die jüngste deutsche Selbstgefälligkeit allzu gerne einen Unterton in diesem Lob, den man sonst nur eher enthaltsam gewordenen Alkoholikern oder in auferlegter Friedlichkeit Körbe flechtenden Häftlingen angedeihen lässt. Deutschland gilt als vorbildlich immer nur bis auf weiteres und unter der Bedingung, dass es "auf Bewährung" vorbildlich ist. Oder auch: die "Gnade der späten Geburt” ist eine pauschale Vergebungsformel, die sich allein die Deutschen selbst zugestehen. Ein Blick in die britische Tagespresse - besonders zur alljährlichen Hoch-Zeit der Champions League – zeigt ganz unwiderlegbar, dass das historisch gewachsene (und längst viel zu heroische) Bild von den gefährlichen deutschen "Hunnen" unverändert leicht weiter an die Leser zu bringen ist. Und die italienische Bildergeschichte von der "Sturmtruppen" wirkt ja nur deshalb etwas versöhnlicher, weil die deutschen Soldaten dort so dumm sind, dass ihre Brutalität nie wehtut.

Nicht einmal den deutschen Fußball erlebt die Welt als einen "guten alten" Fußball. Wer sich außerhalb Deutschlands noch an das "Wunder von Bern" im Jahr 1954 erinnern kann, der wird für immer bedauern, dass Fritz Walter und seine wackeren Mannen eine ungarische Mannschaft besiegten, welche neue Dimensionen für die Schönheit ihres Spiels eröffnet hatte. "Wir sind wieder wer", hieß es damals etwas bockig in Deutschland, und vielleicht war dies der Anfang des Wegs zu jenem allzu auffällig unauffälligen Selbstbild von der wohlgelittenen Nation in der Mitte der Völkerfamilie. Zwischenzeitlich haben die erstaunlichen Erfolge der deutschen Nationalmannschaft eher die Nerven der internationalen Fussball-Gemeinde strapaziert als Bewunderung gewonnen. Niemand brachte diese zur Regel gewordene Frustration kompakter auf den Begriff als vor Jahren der englische Stürmer Gary Linacker mit der zurecht berühmt gewordenen Klage: "Football is a game of ninety minutes – and in the end Germany wins."

Wer immer unter den Deutschen internationales Anerkennen findet, ist schon als Ausnahme von diesem Fremdbild aufgefallen: Franz Beckenbauer, weil er so unangestrengt kickte; Joschka Fischer, weil er sich kaum um die Einhaltung politischer Konventionen scherte; aber auch Immanuel Kant oder Albert Einstein, weil sie anders dachten, als es die "guten alten” und deshalb ausgetretenen Wege vorgaben.

Hans Ulrich Gumbrecht zählt zu den deutschen Literaturwissenschaftlern mit internationalem Renommee. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Deutschland, Spanien und Italien, lehrte dann an den Universitäten Konstanz, Bochum und Siegen. Seit 1989 ist er Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stanford in Kalifornien.