Götz Alys "Volk ohne Mitte"

Die Muster des Vertuschens

Die Plastik "Der Jahrhundertschritt" von Wolfgang Mattheuer steht am 29.12.1997 in der großen Eingangshalle des ehemaligen Reichsgerichts in Leipzig.
Das Bild vom Volk ohne Mitte stammt von Wolfgang Mattheuers Skulptur "Der Jahrhundertschritt" (1984): Ein hakenkreuzförmig verrenkter Mann, der haltlos ist. © picture-alliance / ZB
Von Pieke Biermann · 20.02.2015
Einen prototypischen Deutschen knöpft sich Götz Aly in "Volk ohne Mitte" vor: einen Profiteur und Mitläufer. Nicht nur mit Blick auf den Nationalsozialismus beharrt der Historiker auf der Bedeutung des Massenhaften für die deutsche Geschichte.
Der Titel ist natürlich genial: Wie bitte? Ausgerechnet die Deutschen mit ihrem verhätschelten Mittelstand, ihrem oft bespöttelten Mittelmaß – ein "Volk ohne Mitte"? Die zweite Assoziation: Nach seiner Abrechnung "Unser Kampf 1968" (2008) widmet Götz Aly den nächsten Nazibegriff um: "Volk ohne Raum". Ist das wieder provokationsverliebte Koketterie, wie Kritiker damals polterten? Oh nein. Und wer bereit ist, sich "mit Geduld und Kaltblütigkeit ruhigen Erwägungen hinzugeben" (Wilhelm Röpke), kann nur sagen: Chapeau für diese Perspektive und für die Chuzpe! Mit diesem Titel ehrt der von einem gewissen akademischen Korpsgeist als nicht-satisfaktionsfähig geschmähte Historiker Aly die aller selbstreferentiellen Wissenschaft überlegenen "Schönen Künste".
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Der deutsche Historiker, Journalist und Autor, Götz Aly© picture alliance / ZB / Marc Tirl
Das Bild vom Volk ohne Mitte stammt von Wolfgang Mattheuers Skulptur "Der Jahrhundertschritt" (1984). Ein Mann mit hakenkreuzförmig verrenkten Gliedmaßen, der rasend dynamisch wirkt, aber eigentlich haltlos ist – ihm fehlt die balancesichernde Mitte. Für Aly verbindet sich die bildliche mit einer literarischen Figur: Alfred Fretwurst aus Uwe Johnsons "Jahrestagen" (1970), dem prototypischen deutschen Adabei, der von allem sofort freudig profitiert, bei jeder Schweinerei eifrig mitmacht und hinterher für nichts verantwortlich sein will.
Bestes Antidot gegen "Pegida"
In der Tat ein genialer Titel also, denn um genau diese Figur geht es in der Sammlung aus Artikeln, Reden, einer Predigt, die zum Teil veröffentlicht waren und aktualisiert oder durch "Nachträge" zum jeweiligen Sujet ergänzt wurden. Es gibt aber auch neue Beiträge, zum Beispiel eine Hommage auf den oben zitierten Wilhelm Röpke, einen liberalen Ökonomen, der bereits 1930 schrieb: Wer für die NSDAP stimme, müsse wissen, "dass er für den Krieg nach innen und außen, für sinnlose Zerstörung stimmt", und die NS-Regierung als "Massenaufstand gegen Vernunft, Freiheit und Humanismus" analysierte. Nicht nur dieser Essay ist bestes Antidot gegen "PEGIDA et al" heute. Mit Röpke beharrt Aly auf der Bedeutung des Massenhaften – der unangenehmen Tatsache, dass "die NSDAP die erste veritable Volkspartei in Deutschland" war – und den daraus folgenden Chancen für spätere Selbstentlastung: Die geradezu kapillare Arbeitsteilung "verdünnte" das Mitmachen zu einer Art Homöopathisierung jedes Verantwortungsgefühls aufs Bequemste.
Immer wieder variiert Aly die Muster des Vertuschens, Verleugnens und aggressiven Bekämpfens, den "zunftmeisterlichen Dünkel" enttarnter Wissenschaftler. Aly wäre nicht der polemische Instandbesetzer bequemer Schneckenhäuser, wenn er nicht gleich die nächste Heilige Kuh Richtung Schlachthaus befördern würde: den Kalten Krieg. Der war, überlegt er "zum 3. Oktober 2014", vielleicht regelrecht heilsam, vierzig Jahre künstliches Koma für die Rekonvaleszenz des gesamten Kontinents. Gut möglich, dass die Gegen-Polemiken – des "ewigen Nazithemas" müde – sich diesmal darauf einschießen.
Götz Aly: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015
266 Seiten, geb., 21,99 EUR

Mehr zum Thema