Götter in Weiß - damals und heute

07.09.2008
Ein Ritt durch die spannende und abwechslungsreiche Geschichte der Heilkunst: Es geht um die Rolle der Bakterien, um Frauen im Medizinstudium, um den Umgang mit psychisch Kranken bis hin zur robotergestützten Chirurgie und den Möglichkeiten einer maßgeschneiderten Gentherapie. Den Medizinhistorikern ist ein kurzweiliges, lesbares Fachbuch gelungen.
Wer im Jahr 2000 in Deutschland geboren wurde, wird im Schnitt 30 Jahre länger leben, als sein Landsmann Jahrgang 1900. Infektionskrankheiten sind hier zu Lande nahezu ausgerottet - dank der Antibiotika. Sie sind nur einer der vielen Erfolge der Medizin im 20. Jahrhundert.

Zum ersten Mal gibt es nun ein Buch zu diesem Thema: eine kompetente Gesamtschau, die in insgesamt zwanzig Kapiteln sowohl Fortschritte als auch Grenzen der Heilkunde seit 1900 aufrollt. Verfasst wurden die anschaulichen Texte von verschiedenen Medizinhistorikern – Experten auf dem jeweiligen Gebiet.

Fast immer liest sich das kurzweilig. Was wohl auch den Herausgebern, den beiden Medizinhistorikern Dominik Groß und Hans Joachim Winckelmann zu verdanken ist. Denn obwohl beide Hochschulprofessoren sind, ist kein trockenes Fachbuch entstanden, sondern ein gelungenes und zugleich anschauliches Panoramawerk, das detailliert Einblicke in die jeweilige Entwicklung einzelner Fachbereiche erlaubt.
Beispiel Chirurgie: Beim Rückblick ins Jahr 1900 werden die Fortschritte besonders deutlich. Dass die Keimfreiheit beim Operieren unerlässlich ist, war damals zwar im Prinzip bereits bekannt. Aber:

"Mancher Arzt verharrte in überkommener Tradition und blieb bei alten Anschauungen, bis ihn die Zeit überholte. So zum Beispiel Thomas Annandale, der die Katheter mit dem Mund durchblies, um zu prüfen, ob sie durchgängig waren."

Steriles Arbeiten und sichere Narkosen sind heute Standard bei chirurgischen Eingriffen. Und viele Operationen sind heute zudem deutlich schonender, dank der Schlüsselloch-Chirurgie. Sie war einer der großen Fortschritte gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts.

"Es gibt heutzutage rund dreißig verschiedene Verfahren, die durch das Endoskop im Verdauungstrakt vorgenommen werden können. So sind ohne Bauchschnitt inzwischen fast 95 Prozent aller Gallenblasenoperationen möglich. Während sich Blinddarm, Gallenblase und Verwachsungen recht gut über die nur durch Stichwunden eingeführten Geräte entfernen lassen, wird mit der Beseitigung ganzer Lungenflügel, der Speiseröhre oder von Leistenbrüchen noch experimentiert."

Es sind die großen und kleinen Erfolge, die Missstände und Schieflagen in der Medizingeschichte, die Groß und Winkelmann in ihrem Buch thematisieren und damit das gewagte Unterfangen meistern – nämlich einen guten Überblick über ein umfassendes Gebiet zu geben. So fehlt auch der Erkenntniszuwachs in den Naturwissenschaften nicht: Was in Zellen und Geweben passiert, wenn Menschen krank werden, ist in vielen Details aufgeklärt. Und die Chemie hat es ermöglicht, mit Wirkstoffen gezielt in diese Vorgänge einzugreifen. Beispiel Aspirin.

"Acetylsalicylsäure steht stellvertretend für eine neue Strategie zur Gewinnung von Arzneistoffen: die vollständige Synthese der als wirksam identifizierten Naturstoffe und deren Abwandlung zu Derivaten mit besserer oder breiterer Wirksamkeit. Für eine vollsynthetische Substanz musste man weder Heilpflanzen anbauen (damals wurden sie oft in den Tropen kultiviert) noch versuchen, die interessierenden Stoffe zu extrahieren."

Dass Aspirin auf Dauer die Magenschleimhaut ruiniert, war im Jahr 1900 noch nicht bekannt. Keine Wirkung ohne Nebenwirkung – auch das ist eine der wichtigen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts. Womit wir bei den Grenzen der Heilkunde wären. Auch sie werden in diesem über 340 Seiten dicken Buch nicht ausgespart – und genau das macht seine Qualität aus.

Spannend zu lesen ist vor allem, wie stark Politik und Wirtschaft von Anfang an Einfluss auf die ärztliche Tätigkeit genommen haben. Mit Ergebnissen wie der heutigen Zwei-Klassen-Medizin. Oder der Tatsache, dass in der Dritten Welt immer noch viele Menschen an Tropenkrankheiten sterben, weil es sich finanziell nicht lohnt, wirksame Medikamente zu entwickeln. Ein eigenes, besonders beklemmendes Kapitel ist der Verstrickung von Medizin und Nationalsozialismus gewidmet:

"Die 1942/43 stattfindenden Gasbrandversuche dienten dem Zweck, für die zahllosen schweren Wundinfektionen der Frontsoldaten Therapiemöglichkeiten zu finden. Dazu wurden weibliche polnische Häftlinge des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück vorsätzlich an den Beinen verletzt und die Wunden mit Gasbranderregern infiziert, um an diesen simulierten Kriegsverletzungen die effektivste Therapie zu testen."

Illustriert wird dieser Text, ebenso wie die anderen Kapitel, von sorgfältig ausgewählten Archivfotos. Manche erschreckend, wie das Schwarzweißfoto des NS- Arztes Rascher, der teilnahmslos einem "wissenschaftlichen Experiment" beiwohnt. Andere besonders einprägsam: wie die Aufnahme der ersten Medizinstudentinnen, denen 1903 nur eine enge Dachkammer für ihre Arbeit zugestanden wurde. Beide stehen stellvertretend für die Vielseitigkeit der Medizingeschichte, für ihre Hoffnung, ihre Erfolge, wie auch ihre Tiefschläge. Selten wurde Medizin im 20. Jahrhundert so anschaulich vermittelt.

Rezensiert von Hellmuth Nordwig

Dominik Groß und Hans Joachim Winckelmann (Hrsg.): "Medizin im 20. Jahrhundert - Fortschritte und Grenzen der Heilkunde seit 1900"
Ärztliche Praxis Edition München 2008
343 Seiten, 29,90 Euro