Goethe - ein Schamane?

31.07.2008
Schamanen werden Heil- und Zauberkünste aller Art nachgesagt, aber passen sie auch in unserer heutige Zeit? Der Ethnologe und Journalist Geseko von Lüpke meint, sie seien prädestiniert, der einseitig aufgeklärten, wissenschaftlich-materialistischen Moderne wieder zur Ganzheit zu verhelfen. Der Autor hat für sein Buch "Altes Wissen für eine neue Zeit" mit siebzehn Schamen gesprochen.
Der Wikipedia-Eintrag im www dokumentiert die aufgeklärte Sicht auf den "Schamanismus": Er ist seit dem 18. Jahrhundert ein etablierter, stets etwas mirakulöser Gegenstand der Ethnologie und verliert hinter der wissenschaftlichen Forschung praktisch jede Vitalität. Geseko von Lüpke dreht in "Altes Wissen für eine neue Zeit" die Perspektive um. Moderne Schamanen erklären (ihm) ihre spirituellen Traditionen, Initiationen und Zeremonien, ihren Werdegang und ihre Stellung in den indigenen Kulturen, gleichzeitig aber kritisieren sie die westliche Zivilisation.

Dabei argumentieren hoch gebildete Heiler wie der grönländische Inuit Angaangaq Lyberth oder der peruanische Inka Don Osca Miro-Quesada gelegentlich wie Intellektuelle aus unseren Breiten. Bei anderen - etwa dem südafrikanischen "Sangoma" Percy Konquobe, dessen Praxis von Knochenorakeln bestimmt wird - ist man dagegen befremdet vom archaisch-magischen Zuschnitt der Gedanken.

Von Lüpke, der Vorwort, Einführung und Epilog schreibt, gibt einige Gemeinsamkeiten schamanischer Praxis an: Schamanismus (den es seit ca. 40.000 Jahren geben soll) entspringe der Erfahrung des Todes und der Überzeugung, dass der menschliche Geist wiedergeboren wird. Die schamanische Weltsicht lasse rationale wie irrationale Einsichten nebeneinander zu, trenne nicht zwischen Mensch und Natur, unterscheide nicht "zwischen Ich und Nicht-Ich".

Heutiges schamanisches Wissen greife auf Tiefenstrukturen der menschlichen Gattungsgeschichte zurück und ähnele der psychoanalytisch provozierten Bewusstwerdung beim Individuum. Fast immer sei der Kreis das zentrale Symbol; die Ganzheitlichkeit der schamanischen Weltsicht könne mit avancierten wissenschaftlichen Konzepten (etwa der Quantenphysik) verbunden werden und sei die Basis für nachhaltige Bewirtschaftung der Erde und ökologische Ethik.

In den Gesprächen fragt von Lüpke niemals kritisch nach und meldet keine grundsätzlichen Zweifel an. Er versagt sich die intellektuelle Zergliederung, die viele Schamanen als die Crux des wissenschaftlichen Denkens brandmarken. Wenn ein Gesprächspartner behauptet, sich bisweilen in einen Jaguar (das Tier, nicht das Auto) zu verwandeln, bleibt offen, ob das eine gleichnishafte Rede ist, oder ob da jemand seine materielle Verwandlung behauptet.

Aufs Ganze gesehen sind die Auskünfte der Schamanen allerdings weniger obskur, als vielmehr Zeugnisse eines energiereichen und komplexen heidnischen Bewusstseins. Dabei verherrlichen die Heiler weder ihren Werdegang, der fast immer mit starken seelischen Schmerz- und körperlichen Grenzerfahrungen zu tun hat, noch die ausgebildete schamanische Weltsicht. Die guatemaltekische Maya-Priesterin Doňa Eufemia Cholac Chicol legt ausdrücklich Wert darauf, nicht zu den "Show-manen" zu gehören. Die Distanzierung von laxen New-Age-Aufgüssen zieht sich durchs ganze Buch.

Wollte man im Reichtum des Materials (mit teils glänzend ausformulierten, auch ironischen Gedankengängen) eine programmatische Aussage identifizieren, könnten es die Worte des mongolischen Tuwa-Schamanen Galsan Tschinag sein:

"Es ist die Naturgewalt, die aus dem Schamanen spricht. Der Schamane ist der wahnsinnige, ambitionierte Mensch, der versucht, das Unergründliche zu ergründen. Schamanen sind ein bisschen geisteskrank, sie sind schizophren. Und diese Schizophrenie wird bewusst gepflegt."

Jeder Leser wird selbst entscheiden, ob er solches Streben als heidnische Variante des faustisch-mitteleuropäischen Erkenntnisdranges und der Sorge um Mensch wie Natur akzeptiert. Geseko von Lüpkes Buch liefert den nötigen Stoff zur Diskussion. Im übrigen behauptet Galsan Tschinag:

"Goethe hat gute Gedichte geschrieben, aber nicht als Schriftsteller, sondern als Schamane."

Und Tschinag hat - nicht als einziger unter den weltläufigen Schamanen - in Deutschland Germanistik studiert.

Rezensiert von Arno Orzessek

Geseko von Lüpke: Altes Wissen für eine neue Zeit
Gespräche mit Heilern und Schamanen des 21. Jahrhunderts

Koesel-Verlag, München 2008
429 Seiten, 22,95 Euro