Gnostische Schriften aus dem zweiten Jahrhundert

28.02.2007
Es gibt weit mehr Evangelien, als in der heutigen Bibel zu finden sind. Zwei von ihnen - das Judas-Evangelium und das Evangelium nach Maria - stellt der Theologe Gerd Lüdemann vor und zeigt damit zwei Perspektiven auf Leben und Wirken Jesu aus einer ungewohnten Perspektive.
Von Beginn an neigt das Christentum zur Pluralität: Vier Evangelien bezeugen Wirken, Sterben und Auferstehung Jesu. Vier verschiedene Perspektiven, vier unterschiedliche Theologien.

Von Beginn an setzt das Christentum auf Abgrenzung: Etliche Textstellen innerhalb des Neuen Testamentes bezeugen Lehrstreitigkeiten – zum Beispiel über Jesu Menschlichkeit und Göttlichkeit – und dokumentieren heftige Verurteilungen. So sind für den Verfasser des zweiten Johannesbriefes Leugner und Dissidenten, die die Gemeinde verlassen haben, "der kollektiv verstandene Antichristus".

Darüber hinaus bringen seit mehr als hundert Jahren archäologische Funde die außerbiblische "Kehrseite" der kanonisierten Texte zum Vorschein. Was bislang nur aus zweiter Hand, aus abgrenzenden und polemischen Kommentaren von Kirchenvätern bekannt war, wird nun im Original sichtbar.

Man entdeckt zahlreiche weitere Evangelien, die wegen mangelnder Rechtgläubigkeit bei der Kanonbildung im zweiten Jahrhundert nicht berücksichtigt wurden – und für lange Zeit verschwanden. Gerd Lüdemann hat viele davon ins Deutsche übersetzt und 1997 in der "Bibel der Häretiker" publiziert. Zwei weitere reicht er nach: Das Judas-Evangelium und das Evangelium nach Maria.

Beide Schriften, die scheinbar auf Judas, den Verräter Jesu, und auf Maria von Magdala zurückgehen, haben mit den kanonisierten vier Evangelien nicht viel gemein. Weder sind sie "Passionsgeschichten mit längerer Einleitung" (M. Kähler), noch teilen sie deren Theologien und Perspektiven. Im Gegenteil: Es handelt sich um zwei gnostische Schriften aus dem zweiten Jahrhundert.
Die Gnosis war die Esoterik der Antike. Die Zweiteilung von Körper und Seele zählte zu ihren Markenzeichen. Eine leibfeindliche, wenngleich die Mainstream-Weltanschauung auf dem Markt der Religionen – und christlichen Theologen ein Dorn im Auge.

"Gnosis" bedeutet "Erkenntnis". In erster Linie geht es um Selbsterkenntnis. Die hilft, dass die göttliche Seele, die in einem Körper gefangen ist und ihre wahre Heimat vergessen hat, durch den Ruf des Erlösers wieder ihre wahre Bestimmung findet und in die himmlische Welt zurückkehrt.

Gnostischem Verständnis nach bedurfte auch Jesu göttliche Seele der Ablösung vom irdischen Leib. Die Kreuzigung wird weichgespült, ist nur die Zerstörung der äußeren Hülle, kein Skandal. Der Kern ist unzerstörbar, Gott kann nicht sterben. In der Folge wird Judas aufgewertet, avanciert im gleichnamigen Evangelium vom Verräter zum Erlöser, der das Heilsnotwendige vollzieht – und noch vor Jesus in den Himmel eingeht.

Im Mittelpunkt des Evangeliums nach Maria steht Maria von Magdala, die Urgnostikerin dank exklusiver geheimer Offenbarungen durch Jesus. Sie tritt als Lieblingsjüngerin auf, ja als Vertreterin Jesu gegenüber dem männlichen Jüngerkreis. Das spiegelt immerhin tatsächliche Kontroversen des zweiten Jahrhunderts wieder. Die Bedeutung der biblischen und historischen Figur fällt hingegen wesentlich bescheidener aus.

Wie die frühe Kirche mit derartigen Interpretationen und Andersdenkenden umgegangen ist, schildert Lüdemann auf den ersten dreißig Seiten seiner Schrift. Dabei kommt man nicht umhin, einen Bezug zu Lüdemanns eigener Geschichte zu entdecken. Der Autor gilt als "bad boy" unter den Neutestamentlern. Wegen eingestandener Ungläubigkeit – "das Grab war voll, die Krippe leer" – musste er seinen Lehrstuhl mit Prüfungsberechtigung für Theologiestudenten aufgeben.

Das vorliegende Bändchen wendet sich an Fachtheologen sowie an engagierte Leser und interessierte Laien. Für sie kommentiert Lüdemann das wenige Textmaterial der alten Papyri präzise und ausgiebig. Des Weiteren beleuchtet er den Konflikt zwischen "rechtgläubig"-katholischem und gnostischem Christentum, kurzum: eine kirchengeschichtlich höchst brisante Phase.

Als einziges Manko erweist sich: Der Text des Judas-Evangeliums fehlt. Aufgrund urheberrechtlicher Probleme bietet Lüdemann nur eine Wiedergabe des Gedankengangs der gnostischen Schrift, deren deutsche Übersetzung im Internet – noch – mühelos herunter zu laden ist.

Rezensiert von Thomas Kroll

Gerd Lüdemann: Das Judas-Evangelium und das Evangelium nach Maria. Zwei gnostische Schriften aus der Frühzeit des Christentums
Radius-Verlag: Stuttgart 2007
160 Seiten, 19 Euro