Glück des Reisens

In der Schule des Staunens

03:58 Minuten
Mann mit Rucksack schaut aus dem Zugfenster (Illustration).
Wir erarbeiten uns unser Weltwissen nicht mehr reisend, sondern schauen bei Wikipedia nach, meint der Autor Christian Schüle. © imago / Ikon Images / Sam Brewster
Gedanken von Christian Schüle · 21.06.2021
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Schon vor der Pandemie hatten wir zu reisen verlernt, meint der Philosoph und Publizist Christian Schüle. Denn Reisen bedeutet, sich auf Unbekanntes einzulassen, zu irren und zu staunen. Doch wer vom Fremden nichts wisse, wisse auch nichts von sich.
Wir haben das Reisen verlernt, weil wir die Wonne der Nutzlosigkeit zu schätzen verlernt haben. Der Mensch wird berechnend, weil er ständig selbst berechnet wird. Reisen hingegen rechnet sich nicht. Es bereichert durch die Hintertür und es fordert das Schwierigste: sich einzulassen.
Wir haben zu reisen verlernt, weil wir Irrung und Wirrung als Scheitern verachten und Scheitern um jeden Preis vermeiden wollen. Aber warum? Der Weg zu Wissen und Bilden geht ja nicht nur über Klicks. Er geht über die Erkenntnis des Nichtwissens, über Irren und Verirren.
Nichtreisende haben Angst, sich zu verlaufen, Reisende legen es genau darauf an. Auf der Reise kommt man desto eher zu sich selbst, je mehr man sich gehen lässt.

Die Kunst des Sich-Einlassens

Wir haben zu reisen verlernt, weil wir uns unser Weltwissen nicht mehr erarbeiten, sondern sofort Wikipedia anrufen und ungeprüft glauben, was uns von wem auch immer auf stets brillanteren Bildschirmen präsentiert wird. Das programmierte Produkt ist immer schon Ergebnis, während Selbsterkenntnis durch Weltkenntnis immer ein Prozess ist.
In Fluten und Massen kommen die Informationen zu uns. Wir aber gehen nicht mehr zu ihren Realitäten. Was bei aller Bekömmlichkeit dabei verloren geht, ist die Erfahrung der Unplanbarkeit, das Glück der Langenweile, der Segen der Ratlosigkeit und die Kunst der Gelassenheit, wenn ein vom Fahrplan versprochener Bus, der seit Stunden kommen soll, tatsächlich niemals kommt. Obwohl alles selbstverständlich scheint, versteht sich doch nichts von selbst.
Wir haben zu reisen verlernt, weil wir das Prinzip der Serendipität preisgegeben haben – das Glück des Unverhofften, des Zufälligen und des Zufalls also, das die Ahnung von Variation, Vielfalt und Verstörung ermöglicht. Die Schönheit unbeleuchteter Gassen eines portugiesischen Dorfs, einer Kleinstadt in Oberschwaben oder im Zentrum von Samarkand wahrzunehmen, schult die Fähigkeit zur Fantasie.

Das Abenteuer eigener Bilder

Die Vorstellung eines Ortes, scheint wichtiger geworden zu sein als dessen leibhaftige Erfahrung. Die Fähigkeit, sich jenseits der Reproduktion des bereits hundertfach Gesehenen eigene Bilder zu verschaffen, verkümmert zusehends. Wer nicht reist, verlernt zu beobachten, weil er keine Fragen mehr stellt. Wer hingegen Fremde, ob im deutschen Nachbarbundesland oder im Delta von Äthiopien, nach Weg oder Auskunft fragt, gerät aller Voraussicht nach in eine völlig unerwartete soziale Interaktion mit dem Unbekannten, zu dem man sich verhalten muss.

Reisen ist nicht Urlauben, so wichtig und schön der Urlaub ist. Urlaub ist immer schon Angekommen-Sein, Reisen immer Auf-dem-Weg-Sein. Reisen ist fortgesetztes Staunen, ohne dieses Staunen sofort verwerten zu können. Auf Reisen stellt der Reisende sich die Lizenz zum bewussten Zeitverlust aus. Der wahre Luxus des Lebens liegt ja nicht in der Verschwendung von Geld, sondern in der Verschwendung von Zeit.
Letztlich wird nicht durch Verzicht, sondern gerade durch das Reisen die Welt gerettet, weil die Bereisung der nahen wie fernen Welt lehrt, dass jeder Mensch überall er selbst und zugleich ein Fremder ist. Und wer vom Fremden und anderen nichts weiß, der weiß nichts von sich.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman "Das Ende unserer Tage" und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" sowie "In der Kampfzone".

© picture alliance / Frank May
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