Glucksende Realitätslöcher

10.10.2007
Quim Monzós Geschichten sind vor allem eines: verrückt. Es sind versponnene, schräge, nachdenklich-melancholische, makabre, entgleisende Gebilde.
Eine Erzählung handelt zum Beispiel von einem jungen Mann namens Z., der eine Zugfahrt antritt und sich in erotischen Phantasien verliert. Als er durch die Waggons spaziert, beobachtet er überall kopulierende Paare. Zurück in seinem Abteil ergibt sich mit einer Reisegenossin, die X. genannt wird, ein Techtelmechtel. X. fasst seine wildesten sexuellen Wünsche in Worte.

Plötzlich bemerkt Z., dass sämtliche Stationen vertauscht sind: nach Marseille kommt sofort Mailand, auf Limoges folgt Bilbao, Toulouse, Straßburg, Brüssel, bis schließlich auf jedem Bahnsteig eines Bahnhofes verschiedene Städte angezeigt werden. Z. steigt aus, um herauszufinden, ob er vielleicht träumt. Zwei Stationen weiter verlässt auch die Reisegenossin den Zug, die in Wirklichkeit Marta heißt. Einige Zeit später begegnen sich die beiden in der U-Bahn, wobei sich Marta nicht ganz sicher ist, ob es sich wirklich um die Zugbekanntschaft handelt.

In einer anderen Erzählung versucht ein Mann beharrlich, seine Wohnung zu verlassen. Aber jedes Mal, wenn er die Tür öffnet, landet er in seiner Diele. Als er schließlich zum Fenster heraus klettert, versammeln sich vor seinem Haus lauter Leute, die Feuerwehr kommt und hält ein Sprungtuch auf. Der Mann ist ganz gerührt von der Idee, dass man offensichtlich annimmt, er wolle sich umbringen. Als die Feuerwehrleute nach oben laufen, um ihm zur Hilfe zu kommen, werden auch sie von der Wohnung verschluckt.

Immer wieder schieben sich in Monzós Geschichten Wirklichkeit und Surreales ineinander: auf jeder Seite versackt man in glucksenden Realitätslöchern und stolpert über Fußangeln, die einen am Wahrheitsgehalt der sichtbaren Welt zweifeln lassen.

Monzó verfährt nach dem Prinzip der Übersteigerung: Pointen überlagern sich, rasante Komik wird durch philosophische Momente unterminiert, gerade etablierte Koordinaten werden durch neue überboten, Figuren wechseln Namen, Identität und Aussehen.

Das formale Kennzeichen dieser Erzählungen ist ihre Kürze. Der raptusartige Rhythmus, das temporeiche Zulaufen auf eine Pointe passt natürlich zu den Sujets. Oft sind die Geschichten fragmentarisch und brechen scheinbar unvermittelt irgendwo ab. Ein großes Thema sind erotische Verwicklungen und die labyrinthischen Wege des Begehrens.

Monzó schlägt literaturhistorische Kapriolen und stellt außerdem irrwitzige Fragen, auf die wir längst einmal eine Antwort wissen wollten, wie: Was geschah eigentlich wirklich mit den Männern im Trojanischen Pferd? Wie kam Walter Tell eigentlich mit dem Bogenschuss zurecht, mit dem sein Vater Wilhelm den Apfel auf seinem Kopf spaltete? Wie geht die Sache mit Robin Hood weiter, nach dem er die Reichen alle ausgeraubt hat?

Quim Monzó wurde 1952 in Barcelona geboren und gilt als einer der großen Stars der katalanischen Literatur. Er schreibt auf Katalanisch und hat vier Romane, sechs Erzählbände und mehrere Essaysammlungen veröffentlicht.

Vor seinem literarischen Debüt war Monzó als Kriegsberichterstatter in Vietnam, Kambodscha, Thailand, Kenia und Nordirland unterwegs. Der Katalane ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Comiczeichner, Drehbuchautor, Songwriter, Kolumnist und bis heute ein kultiger Radiomoderator.

"Hundert Geschichten" ist ein Sammelband, der alle bisher veröffentlichten Erzählungen Monzós zusammenfasst. Monzó erinnert an den Israeli Etgar Keret, er hat etwas mit Dino Buzzati und Giorgio Manganelli zu tun, und er hat viel gelernt von Julio Cortazàr mit seinen surrealen Erzählungen, in denen ein gewöhnlicher Mann schon mal anfängt, plötzlich Kaninchen zu spucken.

Sein katalanischer Nachkomme Monzó ist nie langweilig oder vorhersehbar, sondern immer verblüffend. Vor allem seine grotesk übersteigerten Wendungen lösen beim Leser ein heilsames Schockmoment aus: So kann man sie also auch sehen, unsere Welt. Wer den Alltag in Westeuropa überleben will, sollte sich am besten mit dem neuen Monzó-Ziegelstein bewaffnen. Mit seinen Geschichten in der Hinterhand ist man immer auf alles gefasst und kann der Wirklichkeit eine lange Nase drehen.


Rezensiert von Maike Albath

Quim Monzó: 100 Geschichten
Aus dem Katalanischen von Monika Lübke
Frankfurter Verlagsanstalt 2007
800 Seiten. 25,00 Euro.