Globaldiagnose mit grobem Strich

Rezensiert von Reinhard Kreissl · 14.09.2007
Naomi Klein, Verfasserin des Bestsellers "No Logo!" und Ikone der globalisierungskritischen Bewegung, hat ein neues Buch vorgelegt. Es ist ein Rundumschlag: Klein versucht, die Strategien der globalen Ökonomie als neue Form des Kolonialismus zu entlarven und zwar als weltweites Phänomen in den vergangenen 30 Jahren.
Naomi Klein ist bekannt als radikale Kritikerin der herrschenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse westlicher Gesellschaften. Mit ihrem neuen Buch "Die Schocktherapie" hat sie eine suggestive Deutung der weltweiten Entwicklungen der letzten Jahre vorgelegt.

In zuspitzend vereinfachender Manier setzt sie ein Puzzle zusammen, das als notwendiges Gegengewicht seine Wirkung vermutlich deshalb entfalten wird, weil es den herrschenden Interpretationen an Schlichtheit in Nichts nachsteht. Die auf knapp 750 Seiten erzählten Geschichten bringen auf den polemischen Punkt, was die so genannten seriösen Autoren gerne verschweigen.

Kleins These ist suggestiv und simpel: die kapitalistische Modernisierung, also die Durchsetzung einer möglichst reinen Praxis ungezähmter Marktwirtschaft, nutzt gezielt die Verwirrung der Menschen nach Katastrophen oder sozialen Krisen für die Einführung des Marktradikalismus aus.

"Katastrophen-Kapitalisten haben aber kein Interesse daran, wiederherzustellen, was einmal war. Im Irak, in Sri Lanka und in New Orleans begann die – absichtlich irreführend so genannte – Rekonstruktion damit, den Job der ursprünglichen Katastrophe zu Ende zu bringen und auszuradieren, was von der öffentlichen Sphäre und den entwurzelten Gemeinschaften noch übrig war und es dann schleunigst durch so etwas wie ein neues Jerusalem des Unternehmertums zu ersetzen – und zwar ehe die Opfer des Krieges oder der Naturkatastrophe sich erneut organisieren und ihre Ansprüche anmelden konnten."

Die üblichen Verdächtigen sind bekannt, es sind die so genannten Chicago Boys, allen voran der Ökonom Milton Friedman, an dem Klein kein gutes Haar lässt.

Katastrophen können gegebenenfalls auch herbeigeführt werden und dann passt alles zusammen. In ihrem Einleitungskapitel zeichnet Klein mit grobem Strich die Globaldiagnose, die ihre These belegt: Man zerstört die alte Ordnung, um eine neue radikal-kapitalistische einzuführen.

Im Detail sind die Wege unterschiedlich, aber das Ziel ist immer das gleiche. Und damit sind wir bei dem analytischen Kern der Argumentation dieses Buches: Setzen sich die Absichten des Kapitals immer und überall, gedeckt durch die Macht der Mächtigen linear durch und gibt es eine solches integriertes Gesamtinteresse des Kapitals?

Bejaht man diese beiden Annahmen, so wird Kleins Text zu einer ebenso kohärenten wie simplen Analyse der imperialen Weltpolitik der letzten dreißig bis vierzig Jahre. Das klingt dann, mit leichten Zusatzannahmen garniert, so:

"Friedmans Wirtschaftsmodell lässt sich zum Teil auch demokratisch durchsetzen, die Implementierung der Vollversion bedarf aber autoritärer Verhältnisse. Damit die wirtschaftliche Schocktherapie uneingeschränkt angewandt werden kann – wie in Chile in den siebziger, in China Ende der achtziger, in Russland in den neunziger Jahren und in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 –, ist stets ein großes kollektives Trauma vonnöten, das demokratische Praktiken entweder vorübergehend außer Kraft setzt oder sie völlig unterbindet. Dieser ideologische Kreuzzug wurde unter den autoritären Regimes Südamerikas geboren, und auf seinen größten, erst kürzlich eroberten Territorien – Russland und China – gedeiht er bestens und höchst profitabel unter Regierungen, die bis heute mit eiserner Faust herrschen."

Klein will zeigen, dass es eine Parallele zwischen den Formen der Zerstörung von Persönlichkeiten und der Zerstörung kollektiver soziokultureller Ordnungen gibt und dass beide aus niederen Beweggründen erwachsen. Das ist in dieser Allgemeinheit so trivial wie richtig und falsch zugleich. Nach dem Besuch eines Folteropfers schreibt Klein, sei ihr diese Parallele aufgefallen:

"Ich konnte es nicht ändern, aber ich hatte das Gefühl, dass das, was ihr passiert ist, eine zerstörte Persönlichkeit, und das, was dem Irak passiert ist, ein geschocktes Land, irgendwie miteinander zusammenhängt, dass beides Manifestationen derselben entsetzlichen Logik sind."

Die größte Gefahr dieser Literaturgattung ist das Umkippen in moralinsaure Anklagerhetorik und eine Argumentation ad personam. Die Kritik landet dann immer bei irgendwelchen Dunkelmännern, seien es Ökonomen oder Psychiater, die an persönlichkeitszerstörenden Verhörtechniken geforscht haben und die dann am schlechten Zustand der Welt die Schuld tragen. Solche Zuschreibungen sind von ihrer Machart das Spiegelbild dessen, was sie kritisieren. Auch die Anhänger der hier zu Recht angeprangerten Ideologie des Freien Marktes ziehen hierzulande die Wohlfahrtsmütter und Sozialschmarotzer aus dem Hut, wenn sie gegen ein gut ausgebautes Netz sozialer Sicherung argumentieren.

Das weniger in die Tiefe als in die Breite sich entwickelnde Werk vermittelt auf über 700 Seiten nichts, was dem kritisch belesenen Publikum nicht schon aus anderen Zusammenhängen – von Chomsky bis de Soto – bekannt wäre. Die internationalen Finanzinstitutionen können kleine oder wirtschaftlich schwache Länder erpressen, die Politik dieser Institutionen ist vom so genannten Washington Konsens getragen, die immer gleichen zentralen Figuren haben immer wieder ihre Finger im Spiel und unterm Strich ist das alles so nicht richtig.

Globale Wirtschaftspolitik lässt sich zwanglos als eine Ausbeutung der Peripherie durch das Zentrum beschreiben, die entgegen der Ideologie die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. Klein hat zusammengetragen, was Google und andere an Information bieten und das Ganze mit ein paar selbst vor Ort gewonnen Eindrücken garniert.

Als roter Faden eingewebt in die detailverliebte Darstellung ist eine Verschwörungstheorie. Historische Ereignisse erscheinen als planvolle Umsetzung geheimer Überlegungen mächtiger – meist in Politik und Wirtschaft verorteter – Akteure. Wenn man die Geschichte Chiles als die Folge von Nixons und Friedmans finsteren radikalkapitalistischen Überlegungen erklärt, dann wird aus dem Projekt der Aufklärung allerdings eine Sackgasse. Hier wird der Leser über weite Strecken aus wie auch immer verschuldeter Unmündigkeit nicht heraus- sondern in ein links-kitschiges Disneyland hineingeführt.

Die Darstellung der Gegenrevolution in Südamerika etwa, mit der sich der erste Hauptteil des Buches beschäftigt, erfüllt mit der Schilderung brutaler Folterpraktiken durchaus ihren Zweck, nämlich Abscheu zu erzeugen. Ein Verständnis der Ereignisse auf diesem Kontinent entsteht so nicht. Die Dinge sind komplizierter, als Klein sie in ebenso epischer Breite wie analytischer Blickverengung präsentiert. Das gleiche gilt für alle anderen Fallbeispiele, die in dem Buch präsentiert werden: Polen, China, Südafrika, England, Russland, die asiatischen Tigerstaaten – mit anderen Worten die zeitgenössischen Schauplätze der globalisierten Weltwirtschaft.

Andererseits: Vielleicht sind solche Bücher in all ihrer Redundanz im Angesicht der um sich greifenden sozialen Amnesie auch wertvoll. Sie erinnern an triviale Zusammenhänge, die gegenwärtig hierzulande in Vergessenheit zu geraten drohen, etwa den, dass ökonomische Umwälzungen historisch immer mit erheblichen sozialen Umbrüchen einhergehen oder in der nach wie vor unübertroffenen Formulierung von Karl Marx, dass die Geschichte eine Geschichte der Klassenkämpfe ist. Vielleicht braucht man heute 700 Seiten, um diese einfache Einsicht zu vermitteln.

Naomi Klein: Die Schock-Strategie
Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus

Aus dem Englischen von Hartmut Schickert
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007
Coverausschnitt: "Schock-Therapie" von Naomi Klein
Coverausschnitt: "Schock-Therapie" von Naomi Klein© Fischer Verlage