Gleichsetzungen mit der Nazizeit

"Historisches Wissen allein schützt nicht vor Fehlurteilen"

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Rückansicht einer Frau auf einer Demo. Sie trägt um den Hals ein Schild mit dem Foto von Sophie Scholl, auf dem das Scholl zugeschrieben Zitat steht: "Der größte Schaden entsteht durch die schweigende Mehrheit, die nur überleben will, sich fügt und alles mitmacht."
Mit einem Zitat von Sophie Scholl gegen die Coronamaßnahmen: eine Frau auf einer Demonstration in München. © imago/ZUMA Wire/Sachelle Babbar
Jens-Christian Wagner im Gespräch mit Dieter Kassel · 27.07.2021
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Begriffe wie "Corona-Diktatur" oder Rückgriffe auf die Nazizeit: Kritiker der Coronapolitik setzten bewusst auf starke Symbole, sagt der Historiker und Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner. Bildung sei wichtig, doch reines Wissen reiche nicht.
Kritiker der Coronapolitik ziehen häufig historische Vergleiche mit der Nazizeit in Deutschland. Immer wieder fällt dann der Begriff "Corona-Diktatur". Bei dem Onlinevortrag des Historikers Jens-Christian Wagner hat es der Begriff sogar in die Überschrift geschafft: "'Corona-Diktatur'? – Geschichtsrevisionismus und Schuldabwehr unter Pandemieleugnern". Wagner ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Ein Beispiel für den Vergleich von Personen, die gegen die Coronamaßnahmen in Deutschland sind, mit Personen aus der Nazizeit, die damals gegen eine tatsächliche Diktatur gekämpft haben, ist Jana aus Kassel, die sich mit Sophie Scholl gleichsetzte. Ein anderes Beispiel ist der Hashtag "WeisseRose21", mit dem bereits zu Demonstrationen aufgerufen wurde.

Win-win-Situation für Rechtsextreme

Er glaube, die Gleichsetzungen der Coronamaßnahmen mit der NS-Diktatur geschähen bewusst, sagt Wagner. So etwa die Wahl des Symbols der "Weißen Rose". "Querdenken"-Anwalt Ralf Ludwig habe in einem Videoaufruf zu Demonstrationen am 1. Mai in Weimar gesagt, sie hätten bewusst auf das Symbol der Weißen Rose gesetzt, denn das sei das stärkste Symbol für Widerstand, das wir hätten, gibt ihn Wagner wieder.
Hauptzweck sei in erster Linie "die heutige Politik zu delegitimieren und den eigenen Protest, der zum Widerstand hochgeredet wird, damit zu legitimieren", so Wagner. Gleichzeitig würden aber auch die NS-Verbrechen relativiert. Das sei für Rechtspopulisten und Rechtsextreme eine Win-win-Situation.

"Wir brauchen Geschichtsbewusstsein"

Politisch-historische Bildung und historisches Wissen könnten helfen und müssten verstärkt werden. Doch dieses Wissen allein reiche nicht aus:
"Jana aus Kassel hatte zumindest rudimentär historisches Wissen, sonst wäre sie nicht auf Gedanken gekommen, sich selbst als Reinkarnation von Sophie Scholl zu sehen. Historisches Wissen allein schützt uns noch nicht vor Fehlurteilen. Was wir brauchen, ist ein Geschichtsbewusstsein. Das heißt, das Wissen um die historische Bedingtheit unseres eigenen Lebens und das Wissen um die Abfolge von Ursache und Wirkung."
Dieses Geschichtsbewusstsein sei Ziel der Gedenkstättenarbeit. Mit ihm sei unsere Gesellschaft sehr viel besser davor gefeit, falschen historischen Analogien das Wort zu reden, so Wagner.

Der Online-Vortrag "'Corona-Diktatur‘? – Geschichtsrevisionismus und Schuldabwehr unter Pandemieleugnern" findet am 27. Juli 2021 um 19 Uhr statt über die Webseite der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Eine Anmeldung ist erforderlich.

(abr)
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