Glänzend amüsiert

01.04.2010
Die erste Lesung mit dem neuen Buch fand im Berliner Postbahnhof statt, das ist schon eine amtliche Kulisse. Nur Kulturakteure der Premiumklasse treten dort auf. Hinterm Pult saß, neben Benjamin von Stuckrad-Barre, auch Christian Ulmen, selber Bestsellerschreiber, Comedy-Star, Fernsehpromi, Kinogröße.
Eine solche Lesung muss ein Event sein: Prosa mit Showcharakter, Narration mit Glamour. "Auch Deutsche unter den Opfern" heißt Stuckrad-Barres neue Stoffsammlung, die Kompilation vorwiegend journalistischer Arbeiten für Zeitungen aus dem Axel Springer Verlag.

Unterhaltung? Journalismus? Springer? War nicht von Literatur die Rede? Doch, und darin liegt der Witz dieses Schreibens: Benjamin von Stuckrad-Barre gehört in eine Tradition, die die US-Amerikaner seit den 60er-Jahren New Journalism nennen. Dieser neue Journalismus, aus der Taufe gehoben von Schriftstellern wie Tom Wolfe, Hunter S. Thompson oder Truman Capote, war ein Zwitter aus Berichterstattung und Belletristik. Seine Protagonisten trauten sich dorthin, wo andere Autoren nicht hinwollten: in die Eingeweide der Popkultur, in die Niederungen des Boulevards und des Verbrechens.

In Deutschland kam diese Form erst Mitte der 90er-Jahre sichtbar zur Geltung, und Stuckrad-Barre war ihr wortmächtigster Vertreter. Ausgebildet bei "taz" und "Rolling Stone", übersetzte er angelsächsische Schreibhaltungen für die hiesige Kulturlandschaft. Seine Feuilletons aus Berlin und dem Rest der Republik nahmen die Eigenheiten der politischen Klasse aufs Korn, sezierten den Narzissmus der Medien oder klopften den Boulevard kulturkritisch ab.

Mit der aktuellen Textsammlung kann man Stuckrad-Barres Verfahren noch einmal studieren und sich dabei glänzend amüsieren. Der Reporter ist dabei, wenn Angela Merkel ins All telefoniert, er geht mit Til Schweiger ins Kino und besucht Günter Grass bei einer Lesung. Grundsätzlich gilt: Der hochgestellte Funktionsträger wird durch beharrliches Nachfragen und Beobachten zur mal traurigen, mal peinlichen, immer aber spannenden Figur.

Die zeitdiagnostische Schärfe kommt dabei nicht durch Räsonnement, sondern durch erzählerische Präzision zustande. Da wird das hektische Pfefferminzbonbonlutschen von Sabine Christiansen so präzise verzeichnet, dass sich daraus eine perfekte Bloßstellungsdramaturgie ergibt: So sieht es also aus, wenn Deutschlands einstige Top-Talkerin eine Sendung über Entschleunigung plant. Oder Guido Westerwelle entpuppt sich während einer Wahlkampftournee als selbstironischer Zeitgenosse, mit dem man sogar über Akne reden kann.

Überhaupt das Äußere, Sichtbare, Kosmetische: In dessen Auslegung liegt Stuckrad-Barres große Stärke. Das Oberflächliche, bis zur Unkenntlichkeit Sichtbare und Präsente: Dies entdeckt der Journalistenschriftsteller neu. Und präsentiert es als Indiz für unsere gesellschaftliche Verfassung.

Besprochen von Daniel Haas

Benjamin von Stuckrad-Barre: Auch Deutsche unter den Opfern
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
336 Seiten, 14,95 Euro