Gifte in Babykost

Die Rache der Natur

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Die Gifte stammten auch aus den Samen von Stechäpfeln. © picture alliance / dpa / Fernando Salazar
Von Udo Pollmer · 04.09.2015
Die EU ruft ihre Mitgliedstaaten auf, ihre Lebensmittel auf Tropan-Alkaloide zu untersuchen. Es handelt sich dabei um starke Arzneistoffe, die bereits in bedenklichen Konzentrationen in Babykost angetroffen wurden. Udo Pollmer erklärt die Hintergründe.
In den letzten Jahren kam es wiederholt zu Rückrufaktionen bei Lebensmitteln aufgrund einer hohen Belastung mit Tropan-Alkaloiden - eine Gruppe giftiger Naturstoffe. Betroffen waren Babykost, glutenfreie Lebensmittel sowie Tiefkühlgemüse. Die Gifte stammten aus den Samen von Tollkirsche, Stechapfel, Bilsenkraut und Schwarzem Nachtschatten. Unmittelbar gefährdet sind nach Angaben der zuständigen Behörden (BfR, EFSA) vor allem Säuglinge und Kleinkinder sowie Erwachsene mit Herzproblemen.
Anfang 2015 teilte das Schwerpunktlabor der baden-württembergischen Lebensmittelüberwachung mit, dass in einem Hirsebrei für Säuglinge Rückstände gefunden wurden, die den Grenzwert um mehr als das Zehnfache überschritten. Die Kollegen warnen eindringlich:
"Tropanalkaloide können bereits in geringsten Konzentrationen physiologische Wirkungen ... hervorrufen".
Laut Bundesinstitut für Risikobewertung sind typische Symptome "Benommenheit, Kopfschmerzen und Übelkeit". Der Babybrei aus Hirse wurde als "gesundheitsschädlich" eingestuft.
Einige der betroffenen Firmen versuchen das Risiko herunterzuspielen und verweisen darauf, dass derartige Gifte "seit jeher in Lebensmitteln" vorhanden seien. Außerdem sei der "Klimawandel" schuld und es handele sich ja um wertvolle Medikamente aus der Apotheke der Natur. Seltsam. Bei belanglosen Stoffen in Eiern oder Hähnchen gibt's großes Experten-Kino wegen "möglicher Restrisiken". Finden die Chemiker jedoch gesundheitsschädliche Mengen an starken Giften im Gemüse, handelt es sich vermutlich um Heilkräuter, die Kinder vor Alterskrankheiten schützen könnten.
Bestandteil sogenannter Hexensalben
Der bekannteste Vertreter der Tropanalkaloide ist das aus den Anden stammende Cocain. Dies führt uns zu einer weiteren Wirkung unserer heimischen Tropan-Alkaloide: Es handelt sich genaugenommen um Drogen. Die Stoffe, die im Babybrei gefunden wurden, waren früher zentraler Bestandteil sogenannter Hexensalben. Die wurden auf die Schleimhäute gestrichen – und mit einem Besenstiel zwischen den Beinen kam es bei korrekter Haltung zu Flugträumen und der Vorstellung von orgiastischen Festen. Daher rührt im übrigen der Hexenglauben, die Idee vom Ritt zum Blocksberg.
Unlängst forderte die EU die Mitgliedsstaaten auf, problematische Lebensmittel wie Erzeugnisse aus Buchweizen, Hirse, Mais und Soja systematisch auf Tropanalkaloide zu untersuchen, um einen Überblick über die Rückstandssituation zu bekommen – denn die bisherigen Ergebnisse sind Zufallsfunde. Wer weiß, was besorgte Mütter ihren Lieben schon an Cocktails in Form von Braunhirse eingeflößt haben?
Was kann der Verbraucher tun, vor allem wenn er Kinder verköstigen will? Betroffen von den Rückrufen waren bisher nur Anbieter von Bio-Lebensmitteln. Das ist auch kein Wunder. Denn dort werden gefährliche Unkräuter nicht einfach mit Herbiziden weggespritzt. Herbizide wurden ja nicht nur zur Arbeitserleichterung eingeführt – sie senkten auch die Belastung unserer Nahrung mit giftigen Samen.
Vor der Zeit der modernen Landwirtschaft war die Gesundheit der Menschen durch Ackerunkräuter gefährdet. Neben den genannten Nachtschattengewächsen forderten vor allem die Kornrade, der Taumellolch oder die Osterluzei unter Mensch und Nutzvieh ihre Opfer. Die Kornrade, im Mittelalter auch Höllenkorn genannt, enthält Sapotoxine, die Lepra begünstigen – die Krankheit verschwand aus Mitteleuropa mit der Getreidereinigung. Der Taumellolch, auch Schwindelhafer genannt, löste vor allem Nervenschäden aus, die Osterluzei war für Nierenversagen und Krebs verantwortlich.
Natürliche Landwirtschaft kann zum frühen Tod führen
Mit einem generellen Verzicht auf Herbizide kommen beinahe ausgerottete Giftkräuter als geschützte Pflanzen wieder auf unseren Speisezettel. Die Vorhut bildeten vor einigen Jahren die lebergiftigen Greiskräuter, aktuell kommen die Nachtschattengewächse zum Zug. Weil moderne Technik unsere Lebensmittel sicherer gemacht hat, ging das Gefühl dafür verloren, dass eine natürliche Landwirtschaft wie früher üblich auch zum frühen natürlichen Tod führen kann. Mahlzeit!

Literatur:
BfR: Hohe Tropanalkaloidgehalte in Getreideprodukten: Bei Menschen mit Herzproblemen sind gesundheitliche Beeinträchtigungen möglich. Stellungnahme 2014; Nr. 35
EFSA: Scientific opinion on tropane alkaloids in food and feed. EFSA Journal 2013; 11: e3386
CVUA Sigmaringen, Baden-Württemberg: Rückstände bedenklicher Tropanalkaloide in Kindernahrung. Meldung vom 2. 2. 2015
EU-Kommission: Empfehlung (EU) 2015/976 der Kommission vom 19. Juli 2015 zum Monitoring von Tropanalkaloiden in Lebensmitteln. Amtsblatt der Europäischen Union L 157/9
Oberdoerffer M, Gehr E: Die Zusammenhänge zwischen sapotoxinhaltigen Nahrungspflanzen und der Lepra. Zeitschrift für Hygiene 1940; 122: 472-502
Gehr E: Ist die Reinigung des Brotgetreides von Kornradesamen mitbeteiligt am Erliischen der mitte]alterlichen Lepra. Zeitschrift für Hygiene 1939; 122: 238-248
Frohne D, Pfänder HJ: Giftpflanzen. WVG, Stuttgart 2004
Pollmer U et al: Opium fürs Volk. Rowohlt, Reinbek 2012
Cheeke P: Natural Toxicants in Feeds, Forages, and Poisonous Plants. Interstate, Danvile 1998
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Lamprecht F: Weitere Untersuchungen an Getreide-Unkrautsamen. Getreide, Mehl, Brot 1959; 13: 168-173
Lewin L: Die Gifte in der Weltgeschichte. Springer Berlin 1920
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