Gewissheit nach 60 Jahren

Moderator: Peter Kaiser · 17.05.2005
Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes spürt jährlich noch rund 15.000 Vermisste aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Die Klärung der Schicksale - so Suchdienstleiter Klaus Mittermaier - wecke zwar oft schmerzliche Erinnerungen, gebe den Angehörigen und Nachfahren aber endlich Gewissheit.
Peter Kaiser: Eine Lebensaufgabe, das ist der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes noch immer und zwar unter anderem sicherlich auch für den Leiter des DRK-Suchdienstes München. Klaus Mittermaier kam 1981 dorthin, zuerst als Abteilungsliter und inzwischen leitet er den gesamten Suchdienst, Abteilung München. Schönen guten Morgen.

Klaus Mittermaier: Guten Morgen.

Kaiser: Noch immer werden jährlich ungefähr 13.000 Vermisste aus der Zeit des zweiten Weltkriegs von Ihnen aufgespürt. Wie erklären Sie diese so hohe Zahl nach immerhin 60 Jahren Kriegsende?

Mittermaier: Diese hohe Zahl ist möglich geworden zu Beginn der 90er Jahre. Durch die Veränderungen in der Sowjetunion wurde es möglich, Zugang zu den ehemals verwehrten ehemals sowjetischen, heute russischen Archiven zu kriegen. Wir hatten vorher erst seit 1957 indirekten Zugang, mussten unsere Suchanfragen zur Schwestergesellschaft nach Moskau schicken und die haben geprüft. Aber uns war es wichtig, an die konkreten Fakten heranzukommen und nach mehrjährigen Verhandlungen haben wir ab 1992 die erste Diskette bekommen mit den Namen von 15.000 verstorbenen deutschen Kriegsgefangenen. Und das hat sich bis heute aufsummiert bis auf über eine Million Daten über Namen von Menschen, die in sowjetischer Gefangenschaft waren, und wir sind in der Lage, etwa 15.000, manchmal 18.000 oder 20.000 Verschollenenschicksale des zweiten Weltkriegs jedes Jahr zu klären.

Kaiser: Damit haben Sie schon gesagt, es ist vieles einfacher oder besser für Sie geworden, seit sich der eiserne Vorhang geöffnet hat. Es ist im Laufe der Zeit natürlich durch die moderne Technik vieles auch einfacher und schneller geworden. Wie war es denn am Anfang, 1945/46? Keine Computer, schlechte Kommunikationswege zwischen den Gebieten, wie hat der Suchdienst damals arbeiten müssen?

Mittermaier: Der Anfang war ja in Flensburg schon ein paar Wochen vor Kriegsende, es haben einige Persönlichkeiten festgestellt, dass hier Flüchtlingsmassen über die Ostsee kommen, dass Soldaten von Dänemark Richtung Süden strömen, dass Mütter herumirren und keiner wusste, wo der andere Angehörige ist. Es waren ja etwa 30 Millionen Deutsche voneinander getrennt in den ersten Nachkriegsjahren und man hat erkannt, dass man die Suchwünsche verkarten muss. Man muss Karteien erstellen mit den Suchenden und den gesuchten Personen und das fand natürlich in dem viergeteilten Deutschland an allen möglichen Stellen statt: in Flüchtlingslagern, wo eben Ansammlungen von Menschen waren und das war das Problem. Man musste diese Karteien zusammenführen, denn der eine Suchende konnte über die Ostsee gekommen sein und der andere war vielleicht irgendwo in Oberbayern und dadurch entstanden Karteien, die heute noch im Original existieren - eine Größenordnung von 60 Millionen Karteikarten.

Kaiser: Was wohl jeder kennt, auch wenn er persönlich noch nichts mit dem Suchdienst zu tun hatte, sind diese legendären Suchmeldungen im Radio. Inzwischen gibt es die in Deutschland nicht mehr, aber es gab die unglaublich lange, ich glaube, die allerletzten gab es 1997 im NDR. Wie wichtig waren die wirklich, sind viele Menschen über diese Radiomeldungen gefunden worden?

Mittermaier: Ein ganz wichtiger Punkt waren natürlich die Medien. Es gab Suchdienstzeitungen, Findelkinder wurden plakatiert an allen öffentlichen Stellen und zwölf Rundfunksender haben ständig Suchdurchsagen verlesen. Der letzte war der NDR, der bis etwa 1998 unsere Suchdurchsagen verlesen hat, wir haben vierzehntägig neue Themen und Namen gesammelt, haben sie nach Hamburg gegeben und dann wurden sie verlesen und das hat immer bis zum Schluss auch noch Ergebnisse erbracht.

Kaiser: Nun sind das Millionen von Einzelschicksalen, mit denen der Suchdienst da zu tun hatte. Welche Fälle waren denn besonders spektakulär?

Mittermaier: Im Grunde genommen ist jedes Schicksal spektakulär, aber besonders sind halt so Wiedersehensfälle. Das ist natürlich sehr schön, wenn man heute noch zwei Angehörige zusammenbringen kann, die sich vielleicht 60 Jahre nicht mehr gesehen haben. Wir haben also sehr viele Fälle, ein paar hundert jedes Jahr, wo tatsächlich Menschen nach mehr als 60 Jahren wieder zusammenkommen.

Kaiser: Es waren ja immer wieder auch Prominente dabei. Das Schicksal von Heinrich George, dem berühmten Schauspielervater von Götz George hat der Suchdienst klären können, der Vater unseres Kanzlers Gerhard Schröder wurde gesucht. War das bei den Prominenten von der Suche einfacher als bei den Unbekannten?

Mittermaier: Nein, wir behandeln eigentlich alle Menschen gleich. bei Heinrich George, dem Vater von Schimanski, wie er im Film heißt, der ja ein ganz bekannter Volksschauspieler war, war natürlich immer bekannt, dass er in Sachsenhauen war in dem NKWD-Speziallager Sachsenhauen. Wir haben die Unterlagen über diese Lager beschafft, die fanden wir mehr oder minder durch Zufall in einem Moskauer Zentralarchiv, haben die ausgewertet, haben 82.000 Mikrofilmaufnahmen gemacht und die in unseren Datenbanken systematisch ausgewertet und dann haben wir auch festgestellt, wann der George verstorben ist. Was den Vater unseres Bundeskanzlers betrifft, haben wir schon in den 70er Jahren unsere Kollegen vom rumänischen Roten Kreuz gebeten, mal eine Bestandaufnahme zu machen, was noch an Gräbern vorhanden ist in dem Lande, und da wurden uns umfangreiche Listen zugestellt, die wir verkartet, in unsere Kartei eingestellt haben, aber wir wussten damals natürlich noch nicht, dass der Sohn des Fritz Schröder irgendwann mal der Bundeskanzler sein würde.

Kaiser: Kommen wir mal auf heute. Sie haben ja schon beschrieben, wie viele Konflikte es auf der Welt gegeben hat und gibt, mit deren Folgen Sie sich dann als Suchdienst beschäftigen müssen, Sie suchen ja auch zum Teil nach Opfern von Naturkatastrophen, haben, das ist jetzt abgeschlossen, auch nach Opfern der Tsunami-Katastrophe in Asien gesucht. Das ist ja sicher nicht mehr wie früher das Zusammenführen der Karteikarten. Mit welcher Technik suchen Sie denn heute?

Mittermaier: Beim Bosnienkonflikt 1992 bis 1995 wurden noch Familiennachrichten in Papierform ausgetauscht. Während des Kosovokonflikts 1999 kam das Internet schon zum Einsatz, das heißt, wir haben zusammen mit dem Internationalen Roten Kreuz, family links, ist mittlerweile ja ganz bekannt, auf der sich jeder Suchende oder Gesuchte einstellen kann, auf der jeder Suchende in einer Liste blättern kann oder eben den Namen seines Gesuchten eintragen. Damals haben aber 37 Menschen diese Möglichkeit genutzt und im Irak-Krieg waren es schon 10.000 und natürlich auch bei den neuesten Ereignissen neben der klassischen Form, über Fax, Papierform werden Nachrichten ausgetauscht, spielt das Internet eine zunehmende Rolle. Wobei man sagen muss, wenn man an die letzte Seebebenkatastrophe in Südostasien denkt, dass natürlich auch ein Wildwuchs entstanden ist. Man verliert den Überblick, weiß nicht mehr, welche Meldung oder Internetplattform seriös ist. Das ist ein Problem, das uns Sorgen bereitet.

Kaiser: Ist es denn vorgekommen, dass Sie Leute gesucht und auch gefunden haben, die aber ihrerseits selber definitiv nicht gefunden werden wollten?

Mittermaier: Das gab es, es gab dieses Phänomen wahrscheinlich stärker in Zeiten des Kalten Krieges, wo schon mal irgendein östlicher Geheimdienst irgendjemanden über uns gesucht hat, aber wir haben schon immer Datenschutz praktiziert, das heißt, wenn wir eine gesuchte Person finden, bekommt sie eine Kopie der Anfrage und kann dann selbst entscheiden, ob sie die Anschrift weitergeben will.

Kaiser: Wir haben das Gespräch begonnen mit Informationen über die neuen Mengen an Daten, die Ihnen zugänglich geworden sind durch das Ende des Kalten Krieges. Archive in Moskau und anderswo. Wie ist es denn heute bei der weltweiten Suche, können die verschiedenen Landesabteilungen des roten Kreuzes wirklich in jedem Land so frei suchen wie sie gerne wollen oder gibt es Einschränkungen?

Mittermaier: Nein, es gibt keine Einschränkungen. Unser Hauptfokus liegt ja auf Ost- und Südosteuropa, denn 90 Prozent der Verschollenen des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit sind in Osteuropa verschollen. Wir stoßen auf keine Ressentiments, sondern auf eine Bereitschaft. Wir erklären natürlich auch ausführlich, das ist eine humanitäre Aufgabe, das hat natürlich wenig damit zu tun, wer den Krieg verursacht hat und so weiter, sondern es geht um die humanitäre Aufgabe, den Nachkommen oder Hinterbliebenen Gewissheit zu geben, wenn er verstorben ist, um irgendeine Gedenkmarke zu haben.

Kaiser: Es ist natürlich für jemanden wie Sie, den Leiter des DRK-Suchdienstes München sehr viel Arbeit, oft auch sehr viel Verwaltungsarbeit. Dennoch sind Sie seit 1981 in München dabei. Was war denn für Sie der schönste Moment Ihrer Arbeit in diesem fast Vierteljahrhundert?

Mittermaier: Der schönste Moment ist eigentlich immer, wenn man Menschen zusammenbringt und wenn man mitbekommt, wie glücklich diese Menschen sind und wie sehr sie sich danach gesehnt haben und wie sehr sie unter der Trennung gelitten hatten. Oder auch, selbst wenn wir Menschen mitteilen, wann der Verschollene verstorben ist und wo und wir kriegen einen Dankesbrief, der oft den Tenor hat "ihre Nachricht hat Wunden wieder aufgerissen, aber wir sind unendlich glücklich, dass wir jetzt bescheid wissen, dass wir Klarheit haben". Das sind die positiven Elemente bei unserer Arbeit.
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