Gewerbliche Sterbehilfe

"Wir haben eine vernünftig handhabbare Rechtslage"

08:10 Minuten
Eine Person liegt im Krankenhausbett und hat ein Gerät zur Überwachung des Herzzrhytmuses an seinem Finger.
Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot der gewerbsmäßigen Sterbehilfe aufgehoben. (Symbolfoto) © Getty Images / iStock / gorodenkoff
Roger Kusch im Gespräch mit Dieter Kassel · 22.10.2020
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Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist gewerbliche Hilfe zur Selbsttötung wieder möglich: Sein Verein arbeite seitdem wie vor dem Verbot, sagt Roger Kusch vom Verein Sterbehilfe Deutschland - und rechtfertigt die hohen Mitgliedsbeiträge.
Dieter Kassel: Wenn heute der deutsche Ethikrat öffentlich über Sterbehilfe diskutiert, dann tut er das natürlich nicht zum ersten Mal. Und er tut es auch nicht, ohne dass in Deutschland da auch auf juristischer Ebene in den letzten Jahren eine Menge passiert wäre. 2015 trat ein Gesetz in Kraft, das gewerbliche Sterbehilfe ausdrücklich unter Strafe stellte. Im Februar dieses Jahres hat dieses Gesetz, den Paragraphen 217, das Bundesverfassungsgericht für nicht vereinbar mit der Verfassung erklärt, damit gilt es nicht mehr. Seitdem ist gewerbliche Sterbehilfe wieder möglich.
Natürlich lässt das Bundesverfassungsgericht Raum für ein neues Gesetz, das dann verfassungskonform ist. Das gibt es aber noch nicht, deshalb gibt es verschiedene Organisationen in Deutschland, die gewerbliche Sterbehilfe wieder anbieten, darunter auch der Verein Sterbehilfe Deutschland e.V. Der war 2015 auch schon aktiv, und im Zusammenhang mit dem ist ein Mann bekannt geworden als der in einigen Kreisen umstrittenste, aber definitiv konsequenteste Kämpfer für die Sterbehilfe, der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch.
Sie mussten, was die Aktivität Ihres Vereins angeht, eine ungefähr fünfjährige Zwangspause einlegen. Das ist auch eine Zeit, wo man nachdenken kann. Hat sich Ihre Einstellung zur gewerblichen Sterbehilfe in irgendeiner Form verändert?

"Ganz tatenlos waren wir nicht"

Roger Kusch: Zunächst mal haben wir nur zweieinhalb Jahre nachgedacht. Die zweite Hälfte, die Sie gerade angesprochen haben, haben wir wieder Sterbehilfe geleistet – und zwar von unserem Züricher Verein aus, da haben wir den Angehörigen von sterbewilligen Mitgliedern die Möglichkeit gegeben, ihren Angehörigen zu helfen. Also ganz tatenlos waren wir nicht, aber da handelte es sich insgesamt in den zwei Jahren, in denen wir das gemacht haben, nur um 16 Fälle. Jetzt, seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, arbeitet unser Verein wieder so wie vor 2015.
Kassel: Aber das beantwortet die Frage nicht. Haben Sie persönlich, Sie sind ja einer der Namen, die in Deutschland verknüpft sind mit diesem Thema, haben Sie in irgendeiner Form Ihre Einstellung dazu geändert?
Kusch: Die Einstellung zu der Tätigkeit unseres Vereins generell habe ich nicht geändert. In unserem Verein, da bin ich keineswegs der Einzige, denken wir ständig darüber nach, insbesondere über Nuancen, über Details und über die Frage, ob wir unsere Leistungen und Tätigkeiten verbessern können, anpassen können, wie wir mit Schwierigkeiten umgehen. Unser Verein hat kein Patentrezept für die nächsten zehn Jahre. Wir sind in einem ständigen Umbruch, um uns fortzuentwickeln, aber die Grundlinie unseres Vereins ist seit zehn Jahren dieselbe.
Kassel: Sie sind ja nun auch Jurist, als das Verfassungsgericht dieses Urteil gefällt hat im Februar, haben Sie nicht erwartet, dass dann das Gesundheitsministerium sofort damit anfängt, ein neues Gesetz zu entwickeln?

"Das Verfassungsgericht hat einen Rahmen gegeben"

Kusch: Wenn es nur um rechtsstaatliche Erwartungen ginge, hätten Sie recht, dann wäre das das Naheliegendste gewesen. Aber wir haben einen Gesundheitsminister, der eher politische Entscheidungen fällt als rechtlich zutreffende.
Kassel: Aber ich verstehe das Gesetz so, dass zwar in diesem Fall, was ja manchmal passiert, das Verfassungsgericht die Bundesregierung nicht aufruft, ein neues Gesetz zu machen, es sagt nur, dieses Gesetz war nicht verfassungskonform. Aber es lässt natürlich diese Möglichkeit zu. Da wird auch zugegeben, man kann abwägen zwischen persönlicher Freiheit und Schutz des menschlichen Lebens. Also es ist doch eigentlich auch nicht im Interesse des Ministeriums, kein neues Gesetz zu erlassen.

"Die ungeregelte Situation wird ausgenutzt"
Die allermeisten Suizidversuche seien Verzweiflungstaten, sagt der Mediziner und Philosoph Urban Wiesing, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen: So sie überlebt werden, würden sie anschließend häufig bereut. Im Gegensatz dazu gebe es aber auch wohlüberlegte Wünsche, aus dem Leben zu treten, etwa wenn Menschen an sehr schweren, fortschreitenden Krankheiten leiden. Wenn diese Menschen dabei Hilfe in Anspruch nehmen wollen, sei das auch ihr Recht. Wiesing hält es für sinnvoll, die Sterbehilfe zu regeln und Vorsichtsmaßnahmen für die Beihilfe zum Suizid einzuführen. Die Vereine zur Sterbehilfe sieht er sehr kritisch, sie zockten die Patienten ab.
Hören Sie hier das Gespräch mit Urban Wiesing:


Kusch: Ja, Jens Spahn hat ja am Tag der Urteilsverkündung das bereits angekündigt, dass ein neues Gesetz kommen solle. Aber wenn man ein neues Gesetz ankündigt, sollte man zumindest in groben Zügen wissen, was man eigentlich regeln will. Und die Ankündigung eines neuen Gesetzes bringt ja noch niemanden weiter. Wir haben eine vernünftig handhabbare Rechtslage, wie wir sie Jahrzehnte lang hatten in Deutschland. Und wer jetzt sagt, wir brauchen ein neues Gesetz, um irgendwas zu ändern, sollte zunächst mal sagen, was denn falsch läuft und wo die Schwierigkeiten liegen.
Das Verfassungsgericht hat einen Rahmen gegeben, den der Gesetzgeber ausfüllen kann, wenn er will. Aber um den Rahmen auszufüllen, müsste der Gesetzgeber zunächst mal sagen, was derzeit falsch läuft – und ich sehe da überhaupt nichts.

"Das beste Suizidmittel steht nicht zur Verfügung"

Kassel: Steht Ihnen eigentlich, seit Sie jetzt auch in Deutschland wieder Sterbehilfe anbieten, das Mittel Natrium-Pentobarbital zur Verfügung?
Kusch: Leider nicht, nein. Das ist das Hauptproblem und das ist die alleinige Verantwortung von Jens Spahn. Da gibt es auch keine gesetzgeberische Problematik, sondern Jens Spahn verhindert, dass die Behörde in Bonn, die nennt sich Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, diese Behörde, die jetzt Spahn untersteht, weigert sich, die Freigabe von Natrium-Pentobarbital – sowohl im Einzelfall als auch generell – durchzuführen.
Damit steht in Deutschland das beste Suizidmittel nicht zur Verfügung, aber unser Verein wie auch andere Sterbehelfer und Sterbehelferinnen haben eine Ersatzmöglichkeit, die fast so gut ist wie Natrium-Pentobarbital.

Finanzierung über Mitgliederbeiträge

Kassel: Nun ist Selbsttötung rechtlich überhaupt keine Frage, das war auch mal anders, aber das ist lange her. Das ist natürlich eine Möglichkeit, die jeder und jede im Prinzip hat. Sich privat helfen zu lassen, ist eine Grauzone, wir reden jetzt über gewerbliche Sterbehilfe. Und da reden wir ja auch über relativ viel Geld.
Sie dürfen gerne meine Angaben aktualisieren, aber nach dem, was ich herausgefunden habe, kostet die Mitgliedschaft in Ihrem Verein 2000 Euro und die eigentliche Sterbehilfe selbst dann noch mal 2700 Euro. Das ist dann schon auch ein lukratives Geschäft oder?
Kusch: Nein! Ihre Zahl ist sogar zu niedrig. Wir reden hier nur über Mitgliederbeiträge, die Sterbehilfe selber, am Ende einer solchen Mitgliedschaft, ist kostenlos. Hoch sind unsere Mitgliederbeiträge, die 2000 Euro sind richtig, die Sie gesagt haben. Und hinzu kommt für Mitglieder, die ein grünes Licht haben wollen, grünes Licht ist die Zusage des Vereins, Sterbehilfe zu leisten, ob es dann dazu kommt, ist noch offen.
Wer also grünes Licht haben will, zahlt einen zweiten Mitgliederbeitrag, der ist gestaffelt nach Dauer der Mitgliedschaft zwischen 2000 und 7000 Euro.

Hohe Aufwendungen, wenige Mitglieder

Kassel: Das heißt, es wird so berechnet, dass man nicht sagen kann, okay, ich bin nur einen Monat Mitglied, dann wird es billiger, sondern jeder zahlt ungefähr das Gleiche am Ende, aber dennoch: Es ist ja relativ viel Geld.
Kusch: Das bestreite ich überhaupt nicht, dass es viel Geld ist. Das Problem ist: Unser Verein hat sehr hohe Aufwendungen und hat relativ wenig Mitglieder. Wir haben derzeit 700 Mitglieder. Und ein Verein in der Schweiz, der dasselbe macht, der übrigens Vorbild für uns ist, das ist die Organisation Exit mit Sitz in Zürich, hat 130.000 Mitglieder. Und wenn Sie 130.000 Mitglieder haben, dann brauchen die Mitgliederbeiträge lange nicht so hoch zu sein wie bei uns.
Kassel: Aber es ist natürlich trotzdem so: Letzten Endes ist das Sterben gegen Geld. Ein bisschen wirkt es schon unethisch, auch wenn Sie sagen, Sie brauchen das nur, um sich zu finanzieren.
Kusch: Ein Verein braucht zum Beispiel eine EDV, die ist der Kernbestand unserer Arbeit, die ist extrem teuer bei uns, weil wir sehr sensible Daten von unseren Mitgliedern bekommen. Das heißt, der Sicherheitsstandard unserer EDV muss die höchsten Maßstäbe erfüllen. Eine solche EDV kostet viel Geld. Und diese EDV, die wir haben, die könnte auch statt mit den 700 Mitgliedern, die wir haben, auch mit 17.000 Mitgliedern agieren, die ist nicht begrenzt.
Und solange wir nur 700 Mitglieder haben, müssen diese wenigen Mitglieder prozentual das alles bezahlen, hätten wir mehr Mitglieder, könnten die Beträge niedriger sein. Im Übrigen – und darauf verzichten die Kritiker unserer Tätigkeit immer, darauf hinzuweisen – in unseren Statuten steht eindeutig, und wir halten uns auch seit Vereinsgründung daran, wer weniger Geld hat, das nicht bezahlen kann, bezahlt es nicht.
Wir haben schon mehrfach Sterbehilfe für null Euro Mitgliedsbeitrag geleistet oder für stark reduzierte Mitgliederbeiträge. Deshalb sind die Grundbeiträge relativ hoch, weil wir auch diejenigen mitfinanzieren, die es nicht können. Wer mit Hartz IV zu uns kommt, wird nicht abgewiesen, weil er nicht bezahlen kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen:
Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden oder das auf einen Ihrer Angehörigen zutrifft, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten.
Hilfe bietet unter anderem die TelefonSeelsorge in Deutschland:
0800 111 0 111 (gebührenfrei)
0800 111 0 222 (gebührenfrei)
Die Robert-Enke-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit der Klinik für Psychatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der RWTH Aachen eine Beratungshotline ins Leben gerufen. Diese Hotline bietet Informationen über Depressionen und deren Behandlungsmöglichkeiten an: Tel. 0241–80 36 777 (Montag bis Freitag von 09 bis 12 Uhr und von 13 bis 16 Uhr)
Die Stiftung hat auch eine App entwickelt, die an Depression erkrankten Menschen unter anderem Notfall-Hilfe per SOS-Notruf anbietet.

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