Gewalt

Warum IS-Terroristen brutaler als die 9/11-Täter sind

Das Foto stammt von der Gruppe Albaraka News, die den Dschihadisten nahe steht. Es zeigt mutmaßliche Kämpfer des IS, die nahe der Grenze zwischen Syrien und dem Irak Stellung beziehen.
Was treibt diese Menschen an? Mutmaßliche IS-Kämpfer an der Grenze zwischen Syrien und dem Irak © picture alliance / dpa - Albaraka News
Hans-Jürgen Wirth im Gespräch mit Nana Brink · 22.04.2015
Die Taten der IS-Terroristen zeugen von einer unglaublichen Brutalität, und viele fragen sich, was wohl im Kopf eines solchen Menschen vor sich gehen mag. Der Psychoanalytiker und Publizist Hans-Jürgen Wirth hat Antworten.
Die Brutalität der IS-Terroristen scheint alles bisher Dagewesene zu übersteigen: Der "Islamische Staat" sei noch brutaler, roher und direkter in seiner Gewalt als die Attentäter des 11. September, sagt der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth. Er hat sich mit der Psyche von Attentätern befasst und erklärt, wie jemand zum Terroristen wird.
Angst vor der eigenen Schwäche wird in Aggression verwandelt
Es gehe dabei immer um ein Zusammenspiel von psychischen Strukturen des Einzelnen und kollektiven Prozessen, sagt Wirth. "Sehr häufig liegt bei den einzelnen, liegen schwere narzisstische Kränkungen vor, also Verletzungen des Selbstwertgefühls, Ohnmachtserfahrungen, Erfahrungen, gedemütigt worden zu sein." Damit daraus Terrorismus resultiere, müsse gleichzeitig eine kulturelle Gruppierung existieren, "die sich als Ganzes ebenfalls ausgegrenzt, verachtet und gekränkt fühlt und sich dann die individuelle Kränkung verzahnt mit der des Kollektivs".
Im Mittelpunkt stehe eine männliche "Härte-Ideologie", meint der Psychoanalytiker. Die IS-Terroristen hätten Angst vor ihren eigenen Anlehnungs- und Bindungswünsche und überspielten diese durch martialische Brutalität. Außerdem fürchteten sie Frauen: "Nur drehen die es um und vergewaltigen die Frauen und töten sie und verwandeln ihre Angst vor Frauen und vor Weichheit und vor Schwäche in direkte Aggression."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Warum so viele Menschen in Nussschalen über das Mittelmeer fliehen, das hat nicht zuletzt auch mit Angst zu tun, mit Lebensangst, zum Beispiel vor den Terrormilizen des Islamischen Staates, die mit ihrer vor nichts zurückschreckenden Brutalität ein neues Kapitel des Terrorismus aufschlagen. Erst letztes Wochenende konnte man ja ein Video des IS sehen, wo äthiopische Christen in Libyen enthauptet werden. Und zum ersten Mal hat sich der IS auch zu einem Attentat letzte Woche in Afghanistan bekannt, das 33 Menschenleben forderte. Und immer wieder versuchen wir ja zu begreifen, was geht denn in diesen Köpfen vor?
Einer, der sich bestens auskennt mit der Thematik, ist Hans-Jürgen Wirth. Er ist Psychoanalytiker und Psychotherapeut, und er hat sich mit der Psyche von Attentätern beschäftigt. Einen schönen guten Morgen!
Hans-Jürgen Wirth: Guten Tag!
Brink: Was macht jemanden zu einem Terroristen?
Wirth: Wenn jemand zum Terrorist wird, geht es immer um ein Zusammenspiel zwischen psychischen Strukturen des Einzelnen und kollektiven Prozessen. Sehr häufig liegt bei den einzelnen, liegen schwere narzisstische Kränkungen vor, also Verletzungen des Selbstwertgefühls, Ohnmachtserfahrungen, Erfahrungen, gedemütigt worden zu sein. Das ist in der individuellen Biografie. Der Terrorismus, da kommt dann noch zu dieser individuellen Kränkungserfahrung hinzu, dass gleichzeitig eine kulturelle Gruppierung existiert, die sich als Ganzes ebenfalls ausgegrenzt, verachtet und gekränkt fühlt und sich dann die individuelle Kränkung verzahnt mit der des Kollektivs.
Furcht vor den eigenen Bindungswünschen
Brink: Das passt ja eigentlich auch ziemlich genau auf das, was wir jetzt beim IS sehen. Ist das so?
Wirth: Ja, ich glaube, das gilt insbesondere für terroristische Gruppen, aber das gilt auch für andere Gruppierungen, die sich als Kollektiv zusammentun, von Jugendlichen Skinhead-Gangs bis hin zur Mafia.
Brink: Gibt es so was wie ein Psychogramm auch eines IS-Terroristen?
Wirth: Es gibt schon typische Verläufe, und eine Geschichte ist sicher die männliche Härte-Ideologie, die bei diesen Gruppierungen eine zentrale Rolle spielt. Sie fürchten eigentlich ihre eigenen Anlehnungs- und Bindungswünsche, und sie haben die Auffassung, solche Bedürfnisse sind eigentlich nur etwas für Frauen und Kinder. Und das, was sie als weibliche Schwäche erleben, das verdrängen sie bei sich und überspielen es durch martialische Brutalität, Härte, Kälte, auch Macht und Gewalt.
Brink: Ist es deshalb so, was wir ja an diesen ganzen Propagandavideos sehen, dass sie sich dieser hollywoodreifen Inszenierung auch bedienen, also mit diesen Autos, den Waffen im Anschlag durch die Wüste jagen?
Wirth: Das ist genau Teil dieser Männlichkeits- und gewaltverherrlichenden Ideologie, und dazu passt natürlich auch die Frauenfeindlichkeit, die Frauenverachtung, die Vergewaltigung und Erniedrigung von Frauen, die im Grunde die eigenen weiblichen Anteile bekämpfen soll.
Sich aufopfern für den großen Entwurf
Brink: Aber trotzdem muss ja irgendetwas noch passieren – also wir wollen ja begreifen, warum die dann diesen Schritt gehen, auch aus unserer Gesellschaft heraus – es muss ja irgendetwas noch passieren, dass sie diesen Schritt dann tatsächlich gehen. Liegt der wirklich im Individuellen nur oder auch in einer Gruppe?
Wirth: Nein, der liegt natürlich auch in der Gruppe, dass die Propagandamaschinerie des IS beispielsweise, indem sie solche Videos zeigt, aber indem sie auch in speziellen Moscheen und ideologischen Gruppierungen dieses Modell sozusagen anbietet als einen Ausweg, als einen Heilsweg, mit dem sich junge Menschen identifizieren können, wo sie sozusagen ihre eigene als unsicher erlebte Identität aufgehen lassen können in einem großen, grandiosen Entwurf, und für den sie sich dann auch bereit sind, aufzuopfern.
Brink: Sie haben früher als Therapeut mit Kriminellen gearbeitet. Wo würden Sie denn ansetzen, wenn Sie jemanden vom Terrorismus abhalten wollten, jemanden, der auf dem Weg ist schon, der sich auf den Weg gemacht hat, zum Beispiel nach Syrien oder in den Irak?
Wirth: Ja gut, ich glaube, es ist sehr wichtig, dass man biografisch möglichst früh ansetzt, das heißt bevor eine ideologische Radikalisierung stattgefunden hat. Wenn die mal stattgefunden hat, dann sind solche jungen Männer in der Regel nur sehr schwer zu erreichen. Ich glaube, es ist wichtig, dass man familiäre Bindungen stärkt, aber dass man auch alternative Kontaktmöglichkeiten, Gruppenzusammenhänge stiftet, die eben eine Alternative darstellen zu diesen terroristischen Gruppen oder auch den ideologisch festgefahrenen Gruppen, die als Zulieferer und Durchlauferhitzer eben auch in unserer Gesellschaft da sind.
Ich glaube, es kommt auch darauf an, dass die Gesellschaft Sozialarbeiter und Sozialpädagogen und Sozialtherapeuten engagiert und ein Programm, ein sozialpädagogisches Programm entwickelt, das langfristig in problematische Stadtteile geht, den Kontakt zu solchen Jugendlichen hat und versucht, sie zu erreichen. Das muss ganz ähnlich sein wie zum Beispiel die Drogenarbeit, wo man auch sehr langfristig mit jungen Menschen und in ihrem Milieu versucht zu arbeiten. Das muss sich durchaus auch ergänzen arbeitsteilig mit juristischen und polizeilichen Maßnahmen. Muss man eben jetzt bei diesen terroristischen Gruppen dann aber auch sehen, dass eben Imame, die Hassprediger sind, dass die eingeschränkt werden. Es muss ...
Angst vor Frauen als Vergewaltigungsmotiv
Brink: Ihr Buch "Narzissmus und Macht" beschäftigt sich mit den Attentätern des 11. September. Gibt es da Unterschiede zu den IS-Terroristen, die wir heute im Irak und in Syrien sehen?
Wirth: Zum einen gibt es erst mal sehr viele Ähnlichkeiten, aber es gibt auch Unterschiede, die ich meine, beobachten zu können. Das eine ist, dass – die IS-Leute sind noch roher, noch brutaler, noch direkter in ihrer Gewalt. Es wird exemplarisch deutlich im Verhältnis zu den Frauen. Der Atta, einer der Haupttäter von Nine-Eleven, der sagte, Frauen sollen mich nicht berühren, die sollen bei meinem Tod nicht dabei sein, die sollen gar nicht mittrauern. Also, der hat eine Berührungsangst vor Frauen. Bei den IS-Leuten ist die gleiche Angst vor Frauen da. Nur drehen die es um und vergewaltigen die Frauen und töten sie und verwandeln ihre Angst vor Frauen und vor Weichheit und vor Schwäche in direkte Aggression.
Brink: Aber warum das so ist, warum das so sich entwickelt hat, können Sie das sagen?
Wirth: Ich würde sagen, der IS will sozusagen alle ansprechen. Er appelliert noch stärker an die primitiven, rohen Motive der potenziellen Dschihadisten.
Brink: Der Psychoanalytiker und Psychotherapeut Hans-Jürgen Wirt. Danke für das Gespräch hier in Studio 9!
Wirth: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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