Getarnte Melancholie

18.10.2011
Jan Böttcher ist Musiker und Schriftsteller. In seinem neuen Roman "Das Lied vom Tun und Lassen" bringt er diese Welten zusammen. Drei Generationen treffen aufeinander: ein alter Musiklehrer, ein Gutachter der Schulbehörde und eine 18-jährige Schülerin. Jeder dieser Figuren gehört ein Kapitel des Buches.
In diesem scheinbar stillen, aber nachhaltig wirkenden Roman geht es um drei Figuren. Jedem gehört eines der drei Kapitel. Obwohl sie anscheinend vom Selben sprechen, spricht jeder von etwas anderem, jeder spricht für sich. Der 60-jährige Lehrer Manuel Mauss, der 35-jährige Postakademiker Johannes Engler und die 18-jährige Clarissa Winterhof sind in dieselben Abläufe verwickelt, und die Berührungen, Verschiebungen, Auslassungen und Ergänzungen ihrer tagebuchartigen Ich-Sätze ergeben ein Viertes und etwas sehr Eindringliches, es ist der Kern dieses Romans.

Der Musik- und Englischlehrer Mauss hat auf dem Land ein Bauernhaus gekauft und konnte in einem Nebengebäude seine gesamte Plattensammlung unterbringen. Die Schüler seines Oberstufenkurses kommen oft, um Musik zu hören. Mauss ist isoliert und versucht, in die Welt der Heranwachsenden einzutauchen. Im Unterricht animiert er als virtueller Manager kleine Schülergruppen, Bands zu gründen und begleitet ihren Internetauftritt.

Die zu große Nähe von Mauss zu seinen Schülern verdeckt eine gewisse Leere, die nur der Leser erahnt. Schon hier zeigt sich, dass der Autor, Jan Böttcher, über Bande spielt - das Wesentliche zeigt sich indirekt. Im zweiten Kapitel beginnt Johannes Engler zu sprechen. Er ist Gutachter der Schulbehörde und wird durch den Besuch des Unterrichts von Mauss irritiert. Die Schüler haben Kopfhörer auf, verfolgen hochkonzentriert die Blogs und Websites ihrer Bands und diskutieren sie. Engler erscheint eher schnöselig, ängstlich und angepasst. Bald wird seine Halt- und Orientierungslosigkeit erkennbar. Zufällig begegnet er in der Stadt der Schülerin Clarissa wieder, lässt sich von ihr verführen und gerät ziemlich durcheinander.

Es gibt raffinierte Korrespondenzen zwischen den einzelnen Kapiteln. Durch die wechselnden Perspektiven, die wechselnde Beleuchtung stellt sich die Realität jeweils anders dar. Mauss weiß, dass Clarissa eine Beziehung zu einem 20 Jahre älteren Mann hat und konstatiert, dass es sie anscheinend überfordert. In Englers Darstellung jedoch wird dieser überrumpelt von der Schülerin, glaubt, in ein neues, unmittelbares Leben einzutauchen und merkt, dass das nicht geht. Clarissa selbst, der der dritte Erzählstrang gehört, zeigt sich nach kurzer Zeit genervt von Johannes, sie ist mit etwas ganz anderem beschäftigt - der Selbstmord der Mitschülerin Meret ist ein geheimes Zentrum des Romans. Auch Clarissa macht sich etwas vor - keiner von den Dreien hat recht, aber jeder ein bisschen.

Jan Böttcher hat mit seinen drei Personen sehr individuelle Stimmen der jeweiligen Generation entwickelt, und sie ergeben ein überraschendes, vielschillerndes Bild der Gegenwart. Es entsteht eine Melancholie, die aus den Verhältnissen kommt und sich durch Pragmatismus zu tarnen versucht.

Besprochen von Helmut Böttiger

Jan Böttcher: Das Lied vom Tun und Lassen
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011
315 Seiten, 19,95 Euro