Gestern Weltrekordler, heute ein Wrack

Moderation: Martin Steinhage · 06.07.2013
Einst waren sie Spitzenathleten und Medaillengewinner. Heute sind sie körperlich ruiniert und arbeitsunfähig. Ines Geipel, Präsidentin des Vereins Doping Opfer Hilfe, ist selbst vom Zwangsdoping in der DDR betroffen. Das System der Leistungssteigerung bezeichnet sie als "Glaubensmaschine".
Deutschlandradio Kultur: Frau Geipel, an diesem Wochenende finden die deutschen Leichtathletikmeisterschaften statt. Werden wir da sauberen, dopingfreien Sport in Ulm erleben?

Ines Geipel: Ja, offiziell sind die Meisterschaften sauber. Die NADA sagt, 0,1 Prozent der Proben sind positiv, also vernachlässigbar. Wir wissen aber natürlich, gerade aus der letzten Studie der Sporthilfe, dass die anonymen Aussagen der Athleten deutlich andere sind. In dieser Diskrepanz richten wir uns hier dauerhaft ein. Und dann wird man wieder Siege sehen.

Deutschlandradio Kultur: Werden Sie diese Meisterschaften verfolgen, zum Beispiel in Ihrer einstigen Domäne, dem Hundertmetersprint?

Ines Geipel: Nein. Es liegt an vielem. Es liegt daran, dass ich sicherlich im Moment wo ganz anders bin, an einem Buch sitze, an einem neuen Buch, gerade umgezogen bin, also mich so ein bisschen "in between" befinde. Sicherlich werde ich, wenn es etwas Spektakuläres gibt, das mit einem Auge wahrnehmen. Ich schaue mir diese Spiele an, selbst Olympische Spiele, immer so aus soziologischem Aspekt. Wie verändern sich die Körper? Wie verändert sich das Spiel, das Outfit usw., aber wer hier siegt, da komme ich nicht mehr dran.

Deutschlandradio Kultur: Das ist ganz weit weg für Sie.

Ines Geipel: Vorbei.

Deutschlandradio Kultur: Dann ist wahrscheinlich auch die Tour de France für Sie ganz weit weg. Was geht Ihnen gleichwohl durch den Kopf, wenn Sie lesen oder davon hören, dieses Mal könnte das möglicherweise eine weitgehend saubere Radrundfahrt werden?

Ines Geipel: Na ja, dass natürlich diese Sätze lachhaft sind. Wir haben keinen Boden für diese Aussagen. Wir haben maßlos verdreckte Rennen gehabt. Wir haben Outings gehabt. Und es ist nicht erklärt, wieso diese Tour de France, die hundertste, nun ausgerechnet sauber sein soll. Und, wie gesagt, wir sind in einer großen Glaubensmaschine. Wir wollen das abnehmen. Wir wollen diese Siege sehen nach wie vor. Und den Bruch in der Landschaft, den zeigen wir uns nach wie vor nicht mit. Das ist ja ein bisschen auch meine Geschichte darin. Damit beschäftige ich mich jetzt sehr, was aus diesen Glanzbildern herausfällt, und was die Athleten Ihnen danach erzählen. Und das ist nachgerade trostlos.

Deutschlandradio Kultur: Lance Armstrong hat, wohl mit Bedauern, gesagt, es werde immer schwieriger zu dopen. Und manche Experten sagen, die Nachweisverfahren würden immer besser. Ist also der Kampf gegen Doping vielleicht doch zu gewinnen schlussendlich?

"Wir kommen keinen Schritt weiter"
Ines Geipel: Er ist zu gewinnen. Es gibt natürlich die Möglichkeit für einen weitaus saubereren Sport. Nur das ist nicht zu gewinnen über die Sätze der Athleten, die sozusagen voll Chemie sind, sondern das ist zu gewinnen über das, was wir tatsächlich tun in den Bereichen, in welcher Weise wir die Athleten tatsächlich schützen. Da geschieht zu wenig. Wir haben uns nicht emanzipiert von dieser Glaubensmaschine des schönen Sports. Insofern haben wir bisher kein Land gewonnen, sondern Doper und Antidoper tarieren sich immer wieder neu aus. Wenn es um Doping heute geht, ist es sozusagen ein System der Feindosierung. Die Geschichte der Maske, der Maskierung, der Maskeraden ist zu erzählen. Und da kommt natürlich der einzelne Fan nicht heran.

Wir wissen, wenn Sie in die Antidopinglabore der Welt gehen und mit Experten sprechen, dass sie die Arme heben und sagen - das sind hoch engagierte Leute -, aber die sagen: So what? Mindestens 50 % der Substanzen kommen bei uns gar nicht in den Test. Insofern ist unsere Erzählung über das unwahrscheinliche Engagement der Antidoper mindestens schon genauso lachhaft wie das der Doper.

Deutschlandradio Kultur: Das passt vielleicht auch zu dem, was ich in einem Buch von Ihnen gefunden habe, "No Limits". Da haben Sie 2008 geschrieben, auch hier ein Zitat: "Genetisches Doping wird praktiziert, weil die Gesellschaft es zulässt. Die Fans wollen den Hundertmeterlauf in sechs Sekunden sehen." Wenn ich das richtig verstehe: Die Sportler wollen um jeden Preis gewinnen, die Zuschauer wollen Rekorde sehen, Doping hin oder her. Ist der Antidopingkampf etwas für weltfremde Idealisten?

Ines Geipel: Ja, könnte sein. Also, das hat natürlich vor allen Dingen damit zu tun, dass wir, glaube ich, ja den Schalter im Kopf umgestellt haben. Also, die Diskussion um Doping ist nachgerade ermüdend. Wir kommen keinen Schritt weiter. Die Systeme werden immer ausdifferenzierter, immer komplexer. Und der Fan? Was will der Fan? Der Fan will ein gutes Spiel haben. Der will im Stadion seinen Spaß haben. Dass das Ganze eine wirkliche echte knallharte Nachsubstanz hat, kommt ja nach wie vor viel zu wenig ins Bild und ist insofern für viele vernachlässigbar. Und dazu kommt natürlich, dass innerhalb von Gesellschaft Chemie mehr und mehr eine Rolle spielt und wir ja gar kein wirklich echtes Argument mehr haben. Warum soll der Sport sauber sein, wenn die Gesellschaft völlig zugedröhnt ist?

Deutschlandradio Kultur: Also etwa im Breitensport.

Ines Geipel: Im Breitensport, im Fitnessbereich, in den Schulen, in den Hochschulen, in den Konzertsälen. Also, das wissen wir ja alles, bis in die Politik hinein. Also, ich hab das mal zusammengerechnet kürzlich, weil ich immer dazu befragt werde. Dann kann man schon sagen, dass ein Viertel der Deutschen in irgendeiner Form mit Chemie zu tun hat. Und das ist keine besonders beruhigende Zahl. Denn nach all dieser Chemie, das wissen wir ja auch, kommt der raue Kater, kommt die schwere Depression, kommen schwer kaputte Körper und kaputte Psychen. Und da bin ich nach wie vor eigentlich konsterniert, dass wir das so salopp verhandeln, ja also, dass es immer unter dem persönlichen Risiko läuft und sehr, sehr, sehr wenig wirkliche Aufklärung geschieht.

"Das große Motiv bestand darin, als junge Athletin die Welt sehen zu können."
Deutschlandradio Kultur: Und das Problem kaputte Körper, angegriffene Psyche, das kennen Sie ja nicht nur aus der akademischen Perspektive. Sie selbst waren in der zweiten Hälfte der 70er und der ersten Hälfte der 80er Jahre Spitzensportlerin, eine Topsprinterin, weit über die DDR hinaus bekannt. Wie war das bei Ihnen? Wie viele Jahre wurden Sie ohne Ihr Wissen gedopt? Und wie alt waren Sie, als das losging?

Ines Geipel: Also, ich war 17. Ich bin sozusagen nicht so ein ganz klassischer Fall für den DDR-Leistungssport. Ich kam aus einem anderen Internat, bin mit 17 zum Sport und weiß aus den medizinischen Akten, dass in dem Moment, wo ich kam, praktisch das mit der Chemie begann. Und das war im Grunde eine Geschichte, die lief bis ´85. Also, ich bin ´85 aus dem Sport rausgeflogen. Und das sind dann schon etliche Jahre. Die DDR hat ´74 dieses staatliche Zwangsdoping aufgelegt. Wenn Sie mich fragen, können Sie genauso gut zwölftausend andere fragen, die die nämliche Geschichte haben. Und das geschah ohne jede Aufklärung und das meint: ohne ihr Wissen. Damit will ich sagen: Jedes Kind weiß, dass es eine Tablette bekommt und auch nimmt, aber was in der Tablette ist, das ist eigentlich die Frage gewesen und ist auch immer noch die Frage, weil sehr viele ehemalige Athleten erst heute, indem sie anfangen ihre Geschichte zu klären, indem sie ihre Akten lesen, nach ihren Akten überhaupt erst mal fragen, erst jetzt praktisch zur Klärung dieser DDR-Sportgeschichte kommen. Das ist, ich sage immer, entzogenes Wissen ist das grausamste Wissen, weil im Grunde sehr viele ihren eigenen Geschichten sehr, sehr lange hinterherlaufen.

Deutschlandradio Kultur: Ich will noch mal kurz zurück auf diesen zentralen wichtigen Begriff des Zwangsdopings. Wie ging das vor sich, beispielsweise bei Ihnen? Sie waren sicherlich mit 17, 18, 19 auch schon ein wacher Mensch und werden gefragt haben: Hey, was ist das? Und die haben dann gesagt, nimm das, ist gut für dich?

Ines Geipel: Nimm das, wir tun hier das Beste für dich, ist klar. Und dieses medizinische Programm in der DDR war natürlich, du bekamst eine Physiotherapeutin, du bekamst einen Arzt, also die ganze Palette. Man hat sich da schon sehr viel einfallen lassen. Und deswegen bin ich natürlich auch heute so, immer wieder noch so wachsam und äußere mich auch zu diesen Fragen der Chemisierung von Gesellschaft, weil das natürlich so ein Graubereich ist.

Also, ein System wird aufgebaut. Die DDR war ein kleines, zugeschlossenes Land. Es gab keine Information. Und du bist jung, du bist ehrgeizig. Der große Ehrgeiz bestand darin, oder das große Motiv bestand darin, natürlich als junge Athletin die Welt sehen zu können. Also, man musste einem gar kein Geld geben, sondern das hat einen aus sich heraus bewegt. Und da gibt es natürlich auch immer diesen Bereich, wo du Signale oder auch innere Fragen wegschiebst.

Und diese Verbackenheit zwischen dem System, das ohne Frage kriminell unterwegs war, ich sag ja auch, das ist eine Geschichte der Mauerkindgeneration, der Generation Mauer, die im Einschluss groß wird und natürlich sich nicht hatte. Und deswegen gab es natürlich nach dem Berliner Prozess im Jahr 2000 dann ein paar Jahre später für mich auch den Punkt, zu sagen, ich gebe meinen Weltrekord zurück, weil, ich will nicht mehr. Früher konnte ich nicht für mich Verantwortung übernehmen, jetzt kann ich es und ich will nicht Teil einer solchen Unternehmung sein. Ich möchte, dass es saubere Rekorde gibt und, und, und.

Also, dass man mit diesen Geschichten nicht gerade offen empfangen wird, weder im Sport, noch in der Politik, ja, ist so. Da gab es viel Boxerei auch um diese Geschichten. Und natürlich kann man nicht froh sein, wie heute der Stand der Dinge ist.

"Ich glaube, ich habe mich mittlerweile ganz gut zusammengesetzt."
Deutschlandradio Kultur: Über den Rekord würde ich gerne noch mal reden. Sie sprachen von dem Weltrekord, an dem Sie in einer Staffel beteiligt waren mit SC Motor Jena, ein Staffelweltrekord, der übrigens bis heute Bestand hat. Sie haben darauf gedrängt und durchgesetzt, dass Ihr Name aus der Liste gestrichen wurde, der Rekordliste mit der Begründung: Das war Betrug. Damit will ich nichts mehr zu tun haben. Die anderen haben das nicht getan, die anderen Mädels. Was haben die Ihnen gesagt? Wie waren überhaupt die Reaktionen?

Ines Geipel: Na ja, die Reaktionen sind harsch. Das ist klar. Wenn man so einen Schritt geht, das wissen wir ja auch, dass die DDR-Altstars bisher sich nicht besonders bewegt haben, was diese Betrugsgeschichte angeht. Und dabei wäre es einfach. Gerade weil es dieses politische Doping war, gibt es ja im Grunde nicht die Beschuldigung der Athleten. Und ich finde es natürlich schade, aber muss das auch estimieren, dass es so schwer ist, da einen Weg, einen Schritt zu gehen. Und ich orientiere mich natürlich vor allen Dingen an denen, die das tun, die durch die Berliner Prozesse gegangen sind, die ihre Geschichte öffentlich gemacht haben und die genug zu tun haben, im Leben zu bleiben, weil die Schäden so massiv sind.

Deutschlandradio Kultur: Vielleicht ganz kurz noch zu Ihnen und dann zu den massiven Schäden vieler anderer. Hatten oder haben die hohen Anabolika-Dosen, die man Ihrem Körper zugemutet hat, für Sie physische, vielleicht auch psychische Folgen gehabt?

Ines Geipel: Na ja, zumindest war das ein sehr, sehr langer Weg praktisch des Versuchs, sich zurückzuholen, zurückzukommen in den eigenen Körper, in die eigenen Sinne. Das ist ja eine Frage der Enteignung. Diese ganzen Chemisierungsgeschichten im Sport sind ja letzten Endes Enteignungsgeschichten. Und das hatte danach natürlich viele Schritte. Es gab wichtige Fürsprecher, zum Beispiel Professor Werner Franke, der mich ein bisschen geschoben hat und dann gesagt hat, hier, Berliner Prozess, es wäre gut, dafür die eigenen Sätze zu finden. Das ist mittlerweile ja auch fast 15 Jahre her, dass wir diesen Weg gegangen sind und das hat einen auch verändert.

Also, diese gebrochene Identität im Sport auch in das eigne Leben zu integrieren, hat einen schon auch anders gemacht. Und klar, ich sage immer, ich bin kein neuer Ferrari. Es gab geharnischte Operationen. Ich hatte lange zu kämpfen mit einer durch die Chemie verursachten Bulimiegeschichte, hab Therapien gemacht. Also, ich glaube, ich hab mich mittlerweile ganz gut zusammengesetzt.

Deutschlandradio Kultur: Kurzer Einschub: Der Berliner Prozess fand im Jahr 2000 statt. Das war, salopp gesagt, der Prozess gegen die Dopingtäter. Und Sie waren Nebenklägerin in diesem Prozess. Anderen, Frau Geipel, geht es noch deutlich schlechter als Sie das eben beschrieben haben in Ihrem Fall. Manche sind sogar längst gestorben an den Folgen dieser jahrelangen Oralturinabol-Einnahme. Wie viele Opfer des DDR-Zwangsdopings gibt es etwa, die wirklich schwer betroffen sind? Sie sagten vorhin, zwölftausend kann man nennen, die überhaupt betroffen waren. Und wie viel, würden Sie klassifizieren, sind ganz schwer betroffen?

Ines Geipel: Na ja. Wenn es diese Zahl zwölftausend gibt, ist auch erwiesenermaßen gesagt, zehn bis fünfzehn Prozent der Athleten leiden unter irreversiblen Schäden. Und das würde ich schon auch bestätigen, wir haben im Verein im Moment 600 Athleten, die wir betreuen. Und durch die Tatsache, dass wir uns neu aufgestellt haben vor einem Vierteljahr im Vorstand, die im Grunde alles ehemalige Athleten sind, die eine Geschichte haben, melden sich zusehends ehemalige Athleten mit sehr konkreten Fragen, mit der Bitte um Klärung von auch Ansprüchen.

Es geht dann im Grunde auch um solche Fragen: Ist es möglich, in meinem Haus einen Lift einzubauen oder in meiner Wohnung einen Lift einzubauen, weil, das sind zwei Etagen und ich kann mich nicht mehr bewegen? Und da geht es um ehemalige Athleten, die sind heute Mitte 40. Und Sie haben es gesagt: Ja, die Steroid-Vergaben haben unendlich harte Nachgeschichten produziert. Wir haben jetzt im Frühjahr drei Athletinnen, die verstorben sind, zumeist an Tumorerkrankungen, also Krebserkrankungen. Aber die Todesliste ist wirklich lang. Und wir haben mit multiplen Erkrankungen zu tun, wo es ganz schwierig ist, diesen Athleten eine Lebensperspektive zu eröffnen. Und es gehört natürlich dazu, dass nach wie vor, bezogen auf dieses politische DDR-Doping, sowohl der Sport als auch die Politik immer noch sehr mauern. Es ging ja jetzt im Frühjahr um eine Rentengeschichte. Der Vorschlag kam von den Grünen.

Deutschlandradio Kultur: 200 Euro im Monat.

Ines Geipel: Ja, 200 Euro im Monat. Gemessen tatsächlich an den schweren Schädigungen ist das ja vor allen Dingen auch eine Frage der Anerkennung dieser Geschichte. Im politischen Raum ist das völlig abgewatscht worden, vor allen Dingen von CDU und SPD. Und jetzt können wir nur in eine neue Runde gehen und sagen: Die Schäden sind da. Es geht letzten Endes um an die tausend, fünfzehnhundert Athleten im Hinblick auf die DDR-Geschichte, aber natürlich melden sich jetzt auch zusehends neue Fälle, die mit DDR nichts mehr zu tun haben.

"Es sind sogar Bundestrainer, die sich aktuell melden."
Deutschlandradio Kultur: Noch einmal kurz zurück zu dem riesigen Problem der Zwangsdopingopfer. Ich war besonders bestürzt, als ich las und auch in einer Dokumentation sah, dass es eben auch Kinder gibt, nämlich die Kinder von Frauen, die gedopt waren, die kamen zur Welt mit Klumpfüßen, teilweise blind. Gibt’s da eine Zahl der Opfer, die Sie nennen können? Und wie werden die behandelt, von der Politik beispielsweise?

Ines Geipel: Wir kommen an dieser Stelle wirklich keinen Schritt weiter. Also, es gab ja Entschädigungsrunden. Vor allen Dingen eben nach dem Berliner Prozess hatte der Bundestag einen Entschädigungsfond aufgelegt. Da sind die Kinder, also die Schäden - das klingt jetzt ein bisschen abstrakt -, Schäden in der zweiten Generation nicht mit inbegriffen gewesen. Wir versuchen über den Verein zumindest die Fälle zu dokumentieren, die Ärzte, die in dieser Hinsicht helfen können, zu vermitteln. Also, wir sind im Grunde ja nur die Navigatoren für diese schweren Geschichten.
Das sind jetzt bei uns im Verein an die 30, die wir haben. Ich glaube aber nicht, dass das alle sind. Also, noch einmal: Gerade weil diese Dopinggeschichte in der DDR so geheim, so konspirativ verhandelt wurde und gelaufen ist, ist die Klärung und die Aufarbeitung so zögerlich, so schwierig, so verbacken, weil es natürlich auch immer um etwas sehr Intimes geht. Es geht um Körper, es geht um Seelenrisse und, ja, starke Brüche in den Leben der ehemaligen Athleten. Und da muss man sich schon auch überlegen, ob man die Kraft hat, mit diesen Geschichten an die Öffentlichkeit zu gehen.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben jetzt die ganze Zeit über das Doping im DDR-Sport geredet. Es gab, das ist bekannt und kein Geheimnis, natürlich auch Doping im bundesdeutschen, im westdeutschen Sport. Ist die Geschichte der bundesdeutschen Dopingsünden, die ja bis heute nicht wirklich aufgearbeitet worden ist, ist die auch ein Grund dafür, dass sich Politik und Sportverbände bei dem Thema so zurückhalten und aus dem Grund auch nichts mehr hören und lesen wollen vom DDR-Zwangsdoping?

Ines Geipel: Ja natürlich. Diese Geschichte ist absolut verzahnt. Und dieses ewige, ewige Warten auf die Klärung der westdeutschen Chemiegeschichte im Sport, die tatsächlich auch nicht vorankommt – das haben wir an Freiburg wieder gesehen –, das bedingt, dass wir eben mit der ostdeutschen Geschichte auch nicht wirklich zu Potte kommen und ohnedies wir ja nicht besonders stark sind im Hinblick darauf, Brüche, Risse … – das hat natürlich auch mit der Ganzgeschichte des Sports zu tun. Wir wollen sozusagen den Jubel. Wir brauchen ihn auch, immer noch, auch politisch. Und das alles, was danach kommt, das wird doch sehr weggeschoben. Und da will man es nicht so genau wissen.

Im Grunde, glaube ich, hängt jetzt diese Nacherzählung auch ein Stück weit daran, wie geschickt und wie hartnäckig praktisch die, die darin so einen Kollateralschaden erlitten haben, sich öffentlich machen. Immer wieder gibt es das Argument, ja, also, bei mir hat sich keiner gemeldet bisher – dabei haben viele, viele, viele ja ihre sehr harten Geschichten öffentlich schon erzählt. Also, diese Art von Abwehr, diese Art von Unterbuttern, diese Art von Diskreditierung, bezogen eben auf die Opfergeschichten steht uns eigentlich nicht gut zu Gesicht.

Deutschlandradio Kultur: Gibt es Dopingfälle West, also bundesdeutsche Athleten, die auch den Kontakt zu Ihrem Verein suchen?

Ines Geipel: Ja. Also, wie gesagt, im Moment melden sich nicht nur Athleten, sondern erstaunlicherweise auch Trainer oder Betreuer, die darauf hinweisen, auf die belasteten Strukturen im Osten Deutschlands nach wie vor. Denn nach der juristischen Aufarbeitung des DDR-Sports sind ja viele zurückgerudert. Und die jungen Trainer zum Beispiel, die heute antreten und sagen, wir wollen wirklich was anderes, wir wollen vor allen Dingen ohne Chemie starke Leute, starke Athleten heranziehen, mit denen arbeiten – und dann schlägt im Grunde diese Altstruktur immer wieder durch und mobbt die jungen Leute raus.

Also, man bekommt schon ein ganz gutes Gefühl. Und das hat sicherlich noch mal vor allen Dingen damit zu tun, dass wir viel Rückmeldung bekommen, weil es gerade im Vorstand der Dopingopferhilfe viele ehemalige Athleten gibt, die darin wirklich eine Geschichte haben, und ich glaube, von daher sozusagen die Abwehr oder die Sperre nicht so groß ist, sich tatsächlich zu melden und die Geschichten zu erzählen. Das sind Athleten, das sind Betreuer. Es sind Trainer. Es sind sogar Bundestrainer, die sich aktuell melden. Das finde ich sehr aufschlussreich.

Deutschlandradio Kultur: Frau Geipel, was nervt Sie eigentlich mehr, der endlose, immer wieder von Rückschlägen begleitete Kampf gegen Doping oder die schier unglaubliche Heuchelei bei diesem Thema?

Ines Geipel: Ja, also … Natürlich hat das auch was Ermüdendes und man muss sich auch befragen im Hinblick auf die eigene Lebenszeit, was man hier macht. Weil, gerade jetzt bei der Tour de France, diese Schönerzählung, diese permanente Märchenproduktion, das ist schon nervig, weil es ja im Grunde auch denen, die so eine harte Geschichte haben, immer wieder den Boden wegschlägt.

Und ich weiß nicht, ich kann nur noch immer wieder neu sagen: Wollen wir das wirklich? Wollen wir wirklich so eine Art Sport, wo wir immer wieder diese Ewig-Kette von kaputten Seelen und Körpern produzieren, von sehr frühen Toten? Sind wir nicht wach genug, kreativ genug und eben auch politisch genug zu sagen, nee, wir emanzipieren uns von diesem ganzen Rekord- und Medaillenwahn. Wir bauen einen Sport auf, der die Athleten wirklich schützt. Und was dann am Ende an wunderbarer Leistung herauskommt, ist gut, aber es muss nicht immer der erste Platz sein. Die im Innenministerium für den Sport zuständig sind, die, die im Sportausschuss sitzen, brauchen nachgerade ja diesen Schmäh, diesen Glanz, diese Medaillen. Und insofern, ich bleibe mal an dem Punkt, wo ich jetzt bin und sage meine Sätze – und mal sehen.

Deutschlandradio Kultur: Dabei wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Vielen Dank, Frau Geipel.
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