Gespenster der Vergangenheit

19.05.2011
Was sie als Kind an ihrem Vater irritierte – Stimmungsumschwünge, Ordnungsbedürfnis, Anspannung, Strenge – kann Katja Thimm sich erst durch die Gespräche mit ihm erklären. Ihr Buch ist das tiefgründige Porträt zweier Generationen und ihrer Verbundenheit.
Vatertag - der Begriff mag Assoziationen an feuchtfröhliche Gelage, sorglose Männerrunden und ritualisiertes Sich-gehen-lassen auslösen. "Vatertage", das Buch der Spiegel-Reporterin Katja Thimm, allerdings behandelt das Gegenteil von Ausgelassenheit. Sie entwickelt das Psychogramm eines Vaters, dessen Leben vor allem von Ereignissen deutscher Geschichte geprägt wurde - vermutlich mehr als er selbst zugeben würde.

Horst Thimm gehört zur Generation jener, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebten. Vielen ihrer Angehörigen ist ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein und berufliche Durchsetzungsfähigkeit gemeinsam. Aber auch Schweigen über Erlebtes, Angst vor Hilflosigkeit, gesteigertes Sicherheitsbedürfnis und das Unterdrücken unangenehmer Emotionen.

Zwischen 2004 und 2009 zeichnete die heute 42-jährige Autorin Gespräche mit ihrem Vater auf. Katja Thimm reiste mit ihm an die Orte seiner Kindheit und erhielt vom Ministerialrat im Ruhestand Auskünfte über seine Erlebnisse. Als Tochter und politisch bewusste Journalistin fragte sie nach. Zu hören bekam sie "eine deutsche Geschichte": Horst Thimm, Jahrgang 1931, wurde als Sohn eines Försters in Ostpreußen geboren. Seine Kindheit war kurz: ein Leben in den masurischen Wäldern, umgeben von Hühnern, Kühen und Hunden. Eigene Imkerei, baden in den Seen, Fahrradtouren über holprige Chausseen. Anfang 1945 dann Flucht vor der Roten Armee, über die gefrorene Nehrung. Der 13-jährige Horst als Wagenlenker. Unter Beschuss russischer Tiefflieger und Artillerie.

Er gelangte zu seiner Mutter nach Eberswalde, der Vater kam kurz darauf bei einem Bomberangriff ums Leben. Plötzlich war Horst Thimm Halbwaise, eines von fünfeinhalb Millionen Kriegskindern, die Heimat und Angehörige verloren hatten und sich nun inmitten von Trümmern auf dem Schwarzmarkt durchschlugen. Er stellte sich gut mit den russischen Besatzern, geriet später jedoch in Konflikte mit den DDR-Behörden, wurde 1954 verhaftet, zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt und zog nach der Haftentlassung 1960 nach West-Berlin. Äußerlich ging nun alles gut. Studium in Berlin, Familiengründung, Karriere als Beamter in Bonn.

Tochter Katja wuchs wohlbehütet in der Hauptstadt der alten Bundesrepublik auf. Allerdings, was sie als Kind an ihrem Vater irritierte – Stimmungsumschwünge, Ordnungsbedürfnis, Anspannung, Strenge – kann sie sich erst durch die Gespräche mit ihm erklären. Denn vieles, wovon Horst Thimm berichtet, ist für die Tochter neu. Typisch für seine Generation, dass erst im Alter über die belastenden Erfahrungen der frühen Jahre gesprochen werden kann. Sie versteht ihren Vater und wird eine Stütze. Jetzt übernimmt sie Verantwortung, begleitet ihn beim Erinnern und Älterwerden, erlebt, wie schwer es ihm fällt, seine Selbstständigkeit aufzugeben. Im Altersheim suchen ihn die Gespenster der Vergangenheit heim: Plünderer und Scharfschützen bedrängen ihn.

Katja Thimms Buch ist mehr als eine anrührende Familiengeschichte. Es ist das tiefgründige Porträt zweier Generationen und ihrer Verbundenheit. Denn die Autorin versucht nicht nur das Wesen ihres Vater zu verstehen, sondern auch ihre eigenen Empfindungen, sie hinterfragt ihr Verhalten nicht weniger kritisch als das des Vaters. Deutlich wird, wie stark selbst eine in den 1960er-Jahren geborene Autorin noch durch die traumatischen Erfahrungen eines Vaters geprägt ist, der das Kriegsende als Kind erlebt hat. Es ist ein persönliches Buch, das auf kluge und sensible Weise veranschaulicht, dass Privates und Gesellschaftliches aufeinander einwirken – über Generationen hinweg.

Besprochen von Carsten Hueck

Katja Thimm: Vatertage. Eine deutsche Geschichte
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2011
287 Seiten, 18,95 Euro