Gesiegt hat der Rechtsstaat

Von Cora Stephan · 18.02.2007
Brigitte Mohnhaupt, "die Beamtin des Terrors", wie die FAZ sie treffend benennt, wird auf Bewährung entlassen, und ob Christian Klar begnadigt wird, entscheidet der Bundespräsident. Soweit alles klar und alles rechtens. Dieser Staat nimmt keine Rache und verlangt auch keine Reue – die man wahrscheinlich noch nicht einmal hören wollte. Aufklärung darüber, wer wann wen erschossen hat, wäre indes mehr als erwünscht – aber das verbietet den RAF-Leuten ihr "Stolz", wie Spiegel-online anerkennend bemerkt. Oder nicht vielmehr – ihre Ganovenehre?
Dass die RAF nun Geschichte geworden sei, dass man aus alledem Zeichen einer Versöhnung lesen könne, dass sich also das Thema erledigt habe, darf man getrost verneinen. Die Debatte wird spätestens zum 30. Jahrestag jenes deutschen Herbstes 1977 wiederaufflammen, der am 5. September begann, dem Tag der Entführung Hanns-Martin Schleyers durch die RAF, und am 19. Oktober kulminierte – mit der Befreiung der Geiseln in Mogadischu, der Ermordung Hanns-Martin Schleyers in Köln und dem selbst zugefügten Tod Andreas Baaders und Gudrun Ensslins im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim.

Denn es kann an dieser Front keine Ruhe geben, viel zu grauenvoll sind die Ereignisse und viel zu unterschiedlich die Wahrnehmungen dessen, was geschehen ist und wie man es zu interpretieren hat. Auch die Zeitzeugen von damals erleben, was Zeitzeugen schon immer quält: ihre differenzierte Erinnerung wird zugekleistert von Mythologisierung oder Verharmlosung. Die Jüngeren finden Prada-Meinhof irgendwie schick, die Rebellischen glauben an lautere Motive der damaligen Schießkommandos, und alle sehen irgendwie den Geist der Zeit an der Ermordung von mindestens 34 Menschen allein in Deutschland beteiligt. Chauffeure, Botschafter, Polizisten, Wirtschaftsmänner, Piloten, Bankiers und Soldaten, allesamt Schweine, wie es der Jargon der RAF wollte, die denen, die sie abknallten, das Menschsein absprachen.

Man darf manchen heute vorausgesetzten Zusammenhang bezweifeln. Wieso eigentlich gesteht man den Schießtrupps der RAF zu, im Kontext von Nazibewältigung und Vietnamkriegskritik, von Rebellion der Jugend und Aufbruchstimmung, von gesellschaftlichem Umbruch mit freiheitlicher Grundnote zu stehen, dem man doch irgendwie auch etwas zu verdanken habe, und wenn es nur ein bisschen Sex und Schönheit ist wie bei Uschi Obermeier und der Kommune I?

Dass dies alles zusammengehöre, ist ebenso Konsens wie die Behauptung, die RAF habe ihre Wurzeln in der Studentenbewegung und der sich als undogmatisch verstehenden Linken gehabt. Nanu? Ulrike Meinhof erwarb ihren Ruf im Rahmen der Zeitschrift "Konkret", die von der SED bezahlt, ja: gesteuert wurde, was viele Konservative damals behaupteten und die "Bewegung" durchaus wusste.

Es scheint, als ob sich dieser Konsens zwei konträren Kräften verdankte, die sich gegenseitig zu diesem Kurzschluss anspornten: den Konservativen von damals, die hinter jeder Auflösung allgemeiner Sittenstrenge und jedem Langhaarigen den Staatsfeind lauern sahen und den Studentenbewegten, die sich schon deshalb zur Solidarität mit allem möglichen Unsinn genötigt fühlten. Hieß nicht, glaubten damals erstaunlich viele, Kritik an der RAF Einverständnis mit den Verhältnissen? Der Gruppendruck verbot, die Verbindungslinien zu einer kleinen Gruppe Schießwütiger zu kappen, mit denen die meisten damals weniger Solidarität als vielmehr Angst verbanden.

Mich jedenfalls überkommt noch im Nachhinein das große Staunen. Gab es denn wirklich einen direkten Weg von westdeutschen Kommunarden und Haschrebellen ins Palästinenserlager? Von der antiautoritären Schülerbewegung zur paramilitärischen Schießorganisation? Von den Rolling Stones, dem Minirock, den Blumenkindern und dem freien Sex zur verklemmten Sprache der selbsternannten Metropolenguerilla und in die DDR? Und wieso hat die Demokratie davon profitiert, dass man den Rechtsstaat jahrzehntelang gründlich missverstanden hat?

Ja, der Staat hat damals nicht selten überreagiert. Aber auch die andere Seite hegte oft ziemlich pittoreske Vorstellungen von Demokratie und Rechtstaat. Aus dem Imperativ des "Nie wieder!" entwickelte sich ein Widerstandspathos, mit dem man, da "1933" ja stets wieder geschehen könne, überrechtlichen Notstand reklamierte. Noch in der nicht zuletzt als Reaktion auf den deutschen Herbst gegründeten grünen Partei geisterte die Vorstellung von der potenziellen Gefährlichkeit eines Gewaltmonopols des Staates, in keineswegs nur seligem Verkennen seines zivilisatorischen Fortschritts gegenüber den Zeiten von Bürgerkrieg und Lynchjustiz.

Nicht die RAF und ihre Nachfolgeorganisationen sind das Rätsel – sondern die Schwäche der damaligen "linken" Öffentlichkeit, die den Militanten erlaubte, auf klammheimliche Freude und öffentliche Solidarität zu setzen. Gesiegt aber hat unübersehbar der Rechtsstaat, der mit der vorzeitigen Entlassung von Brigitte Mohnhaupt klarstellt, dass seine Grundsätze auch für den schlimmstmöglichen Gegner gelten. Darin unterscheidet er sich von ihr und all den anderen, die sich im Exekutieren ihrer nur noch "Schweine" genannten Feinde gefielen.

In Deutschland gibt es keine Todesstrafe. Das Gewaltmonopol des Staates sorgt dafür, dass es auch von selbsternannten Freiheitskämpfern gleich welcher Sitzordnung nicht wieder eingeführt werden kann.

Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".