Gesellschaftsroman von Jonathan Franzen

Wer ist schon ohne Schuld?

Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen
US-Schriftsteller Jonathan Franzen im April 2015 auf dem Internationalen Literaturfestival in Budapest. © picture alliance / dpa / Foto: Attila Kovacs
Von Arnim Gabriele  · 01.09.2015
Ein sexsüchtiger Internet-Guru mit DDR-Vergangenheit will die Wahrheit enthüllen - und ist selbst ein Manipulator. Der Roman "Unschuld" des amerikanischen Autors Jonathan Franzen ist eine Anklage totalitärer Verhältnisse, ob einst in der DDR oder heute im Netz.
Wir sind in Colorado, in Kalifornien, Bolivien, Berlin oder Jena, schwingen uns mit einem meist mächtig durchgeknallten Personenkarussel in weltweite Lüfte und landen in bitteren Weltwirklichkeiten.
Jonathan Franzens neuer Roman ist eine furiose Anklage totalitärer Verhältnisse – ob in der Stasi der ehemaligen DDR oder im Netz heute. Beides, so Franzen, Systeme, die der Menschheit ihre Menschlichkeit rauben und Figuren vereinnahmen, die – nach Allmacht gierend – sich selbst und andere gnadenlos vernichten.
Natürlich fehlen nicht Ehe-Zerrüttungen, Liebesfesseln und Vergangenheitssünden. Verrat und sogar einen Mord hat Franzen hineingeschrieben in seinen überaus spannenden und nervenzermürbenden Psychokrimi und Gesellschaftsroman.
Andreas Wolf ist ein charismatischer, sexsüchtiger Internet-Guru, der Reinheit predigt und mit seiner Whistleblower-Plattform "Sunlight Project" die Wahrheit über jeden großen Dreck der Welt ans Licht heben will. Tatsächlich aber baut er eine gigantische Ruhmfabrik für sich und verseucht die Welt mit seinen Manipulationen eher, als sie zu erhellen. Er kommt aus der ehemaligen DDR, ist der Sohn eines ZK-Mitglieds, war Dissident. Jetzt lebt er mit Hofstaat in Bolivien, weil die meisten Länder ihn nicht haben wollen, hat eine weltweite, gläubige Gemeinde und wird heimgesucht von furchtbaren Fantasien und Ängsten, weil er einst... – doch es sollen hier nicht alle Geheimnisse verraten werden.
Milliardenerbin, ihre Tochter und Darmerkrankungen
Tom, Andreas' großer Gegenspieler, ist der Sohn einer darmkranken Mutter aus Deutschland – ach die verschlingenden Mütter in diesem Buch – der einer nervenkranken Milliardenerbin verfällt und in ihren schlanken Krakenarmen fast aus der Welt gefallen wäre. Schließlich aber doch ein eigenes Rechercheportal im Internet gründet und so angesehen wie erfolgreich damit wird. Und schließlich haben wir Purity, genannt Pip, Tochter der Milliardenerbin, die von Papas Geld nix wissen will. Pip ist die Titelheldin des Buches, das im Original genau so heißt: "Purity", Reinheit (der deutsche Titel heißt "Unschuld"). Denn um Reinheit geht es. Von der alle reden. Die alle wollen.
Purity, genannt Pip, ist ein intelligentes, zunächst etwas lebensblödes junges Mädchen, das sich – aus nicht ganz lauteren Motiven – anwerben lässt vom Internet-Meister Andreas, weil sie hofft, über ihn ihren dringend gesuchten Vater zu finden. Andreas wiederum hat ein perfides Spiel mit ihr vor, will sie einsetzen als Waffe gegen seinen vermuteten Feind Tom. Doch siehe da, das Mädchen erliegt nur fast seinem Charme und macht ihrem Namen alle Ehre.
Franzen ersinnt meisterhaft komplexe, auch von Familiengeheimnissen verseuchte Beziehungen und peinigend schmutzige Szenarien in seinem voluminösen Werk.
Sexuelle und seelische Abhängigkeiten
Es ist ein praller Roman voller auch überzeichneter Figuren, perfider Gedanken und Taten, sexueller und seelischer Abhängigkeiten, Drohungen, Mord und Machtgier, Ehrgeiz und existentieller Furcht. Franzen erweist sich auch hier als ein Autor, der jede feinste Regung seiner Figuren erspürt und in gänzlich unaufgetakelt klare Worte fassen kann. Sein Andreas Wolf ist ein bannendes Porträt eines Menschen, der immer tiefer in seinem Wahnsinn versinkt.
Nur Purity watet staunenswert unbefleckt durch all den Macht-, Hass- und Nervendreck ihrer Umwelt. Sie ist wohl die Hoffnung, die der Autor uns Lesern freundlich schenkt, die wir diesen Bericht aus einer kranken, einer verheuchelten und zerstörerischen Welt mit bangem Herzen und gellendem Alarm im Kopf lesen.


Jonathan Franzen: "Unschuld"
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld
Rowohlt Verlag 2015
832 Seiten, 26,95 Euro
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