Gesellschaft

Kinderarbeit verbieten? Nein, besser bezahlen!

Ein kleiner Junge sitzt in Kota, in der indischen Provinz Rajasthan, neben einem Transportgestell aus Holz auf einem Haufen Steine. Tausende Kinder hauen in Steinbrüchen in Indien Pflastersteine für den europäischen Markt.
Ein kleiner Junge sitzt in Kota, in der indischen Provinz Rajasthan, neben einem Transportgestell aus Holz auf einem Haufen Steine. Tausende Kinder hauen in Steinbrüchen in Indien Pflastersteine für den europäischen Markt. © dpa picture alliance/ Doreen Fiedler
Moderation: Ulrike Timm · 12.06.2014
Dass Kinder arbeiten, ist nicht das Problem, sagt Manfred Liebel - sondern dass sie dies unter ausbeuterischen Bedingungen tun. Statt für Verbote plädiert der Soziologe für Schutzgarantien und mehr Engagement gegen Armut.
Ulrike Timm: UNICEF sieht ein kleines Licht am Ende des Tunnels, aber der Tunnel ist sehr lang und das Licht nicht sehr hell. Heute ist der Internationale Tag gegen Kinderarbeit, und UNICEF veröffentlichte Zahlen: 168 Millionen Kinder müssen weltweit arbeiten, das sind ein Drittel weniger als vor zehn Jahren – es ist also besser geworden. Andererseits, wenn das Kinderhilfswerk weiter sagt, dass 85 Millionen Kinder von diesen 168 unter ausbeuterischen und gefährlichen Bedingungen arbeiten müssen, dann kann man nicht wirklich von Erfolgen sprechen. Ausbeuterisch und gefährlich, das heißt zum Beispiel, dass Kinder von Menschenhändlern gekidnappt werden in Burkina Faso oder Mali, um dann in Nachbarländern in Goldminen oder auf Kakaoplantagen zu schuften.
Was ist zu tun? Wie kann man helfen? Und muss man auf die ganze Welt gesehen den Begriff der Kinderarbeit vielleicht auch unterschiedlich definieren? Darüber möchte ich sprechen mit dem Soziologen Manfred Liebel, dessen Forschungsschwerpunkt die Kinderarbeit seit Langem ist. Schönen guten Tag, Herr Liebel!
Manfred Liebel: Schönen guten Tag!
Timm: Kinder, die sich in der Hitze von Gold- und Silberminen durch enge, staubige Gänge zwängen – sie sind ja so schön klein –, das kann man doch nur ächten, oder?
Liebel: Ja, ist gar keine Frage, dass Kinder, die in Bergwerken arbeiten oder gezwungen werden, auf Kakaoplantagen zu arbeiten, dass das nicht akzeptabel ist, sondern dass man sehen muss, wie man diese Arten von ausbeuterischer Arbeit endlich weg kriegt. Nur das Problem ist, dass Verbote allein das Problem nicht lösen. Und die bisherigen Strategien zur Bekämpfung der Kinderarbeit, die sind im Wesentlichen auf Verbote gerichtet, und es wird allzu wenig darüber nachgedacht und auch noch immer geforscht, wie sich das auf Kinder auswirkt beziehungsweise was wirklich getan werden kann, damit die Kinder, die arbeiten, auch geschützt werden.
Es gibt sehr viele Kinder, die arbeiten nicht unter diesen extremen Bedingungen, sondern die arbeiten etwa in ihrem Stadtviertel oder arbeiten auf der Straße oder arbeiten auch in der Landwirtschaft, zum Teil in den Laienbetrieben ihrer Eltern, und da wird es zwar auch oft so sein, dass Kinder zum Beispiel unzureichend oder gar nicht entlohnt werden, aber ich finde, ein ganz wichtiger Aspekt, den man dabei bedenken muss, ist, wie man erreichen kann, zum einen, dass diese Kinder nicht mehr arbeiten müssen, das heißt also, statt nur einfach die Arbeit zu ächten, etwas mehr gegen die Armut zu tun, und dass man da, wo Kinder weiter arbeiten, und vor allen Dingen, wenn sie arbeiten wollen, dafür sorgt, dass sie unter Bedingungen arbeiten können, die ihnen nicht schaden.
Timm: Jetzt haben Sie einmal den Gang um die Welt gleich gestartet. Ich glaube, alle sind sich einig, solche Kindersklaven in Gold- und Silberminen, das muss man ächten, verbieten, helfen, wo man kann, da gibt's keine Diskussion. Gleichzeitig höre ich bei Ihnen raus, dass man den Begriff von Kinderarbeit international gesehen schwer klar fassen kann. Ich mache es mal konkret: Den Jungen, der bei mir im Viertel das Wochenblättchen austrägt, den kann man nicht wirklich vergleichen mit einem Kind, das in Bangladesch zehn Stunden am Tag Teppiche knüpft. Wie kann man das dann überhaupt definieren?
Liebel: Auch in den Ländern des globalen Südens arbeiten Kinder unter sehr, sehr verschiedenen Bedingungen, und das muss man stärker berücksichtigen. Also in den von Ihnen genannten Beispielen ist es klar, dass man alles tun muss, damit diese Kinder nicht diese Arbeiten machen müssen.
Timm: Was wäre denn alles tun in diesen Fällen?
Alternative Arbeitsmöglichkeiten für Kinder eröffnen
Liebel: Na ja, dass man schon Aktionen unternimmt, die einschließen, dass Kinder, die in solchen Bereichen arbeiten, Alternativen haben. Also wenn zum Beispiel ihre Familien und sie selbst darauf angewiesen sind, ein gewisses Einkommen zu haben, dass man ihnen alternative Arbeitsmöglichkeiten eröffnet, die sie unter Bedingungen machen können, natürlich freiwillig machen können, die ihnen zum Beispiel auch erlauben, die Schule zu besuchen, die genügend Erholungszeiten einschließen, die auch eine angemessene Bezahlung sicherstellen.
Es gibt solche Initiativen. Also ganz aktuell in Bolivien haben arbeitende Kinder, die sich in einer Art Kindergewerkschaft zusammengetan haben, mit Parlamentsabgeordneten verhandelt über entsprechende Passagen in dem gerade anstehenden neuen Kinder- und Jugendgesetz. Wenn dieser Entwurf, der jetzt vorliegt, Wirklichkeit wird, dann wären Kinder, die auch weiter arbeiten, die wären dann entsprechend geschützt.
Timm: Der Soziologe Manfred Liebel plädiert für eine differenzierte Sicht auf Kinderarbeit. Nun leuchtet mir das insofern ein, als dass zum Beispiel Kinder in der Landwirtschaft weltweit immer geholfen haben, und das ist dann immer die Frage: Ist das jetzt Kinderarbeit oder gehört das einfach dazu? Was mich aber wundert, ist, Sie verknüpfen den Begriff der Kinderarbeit auch mit dem Begriff der Selbstbestimmung. Und ich meine, ich frag mich, wie viel Selbstbestimmung ist dabei, wenn ein Zehnjähriger seine Familie miternähren muss und deshalb nicht oder nur ganz wenig zur Schule gehen kann?
Liebel: Das sage ich ja, dass man sozusagen wirklich an die Wurzel des Problems gehen muss. Viele Kinder müssen arbeiten, weil ihre Familie arm ist, weil sie auf das Einkommen angewiesen sind. Oder sie müssen auch arbeiten zum Teil, um sich sogar ihre Schule zu finanzieren. Es gibt sehr viele Kinder, die vor allen Dingen arbeiten, um sich ihre Schuluniformen kaufen zu können, um die Schulmaterialien kaufen zu können. Sicher gibt es auch sehr viele Kinder, die werden durch die Arbeit daran gehindert, die Schule zu besuchen, aber es gibt eben auch sehr viele andere Fälle. Und deswegen sage ich ja, es ist ganz wichtig, dass man da differenziert und genauer hinschaut, vor allen Dingen guckt, was wirklich die Kinder davon haben, von dem Arbeitsverbot, also immer nach den Folgen guckt und darauf achtet, dass Kinder Alternativen finden.
Timm: Das heißt ...
Liebel: Und diese Alternativen nicht nur darin bestehen, jetzt die Schule zu besuchen, das ist zwar wichtig, sondern die Alternativen auch darin bestehen können, dass man den Kindern legale Möglichkeiten bietet, unter für sie erträglichen Bedingungen zu arbeiten. Wobei ein ganz entscheidender Punkt ist, dass das natürlich aus dem freien Willen der Kinder geschieht. Aber der freie Wille, das ist immer natürlich eine relative Sache, da haben Sie recht. Aber die Kinder – also ich hab das in Lateinamerika gelernt – unterscheiden oft zwischen Notwendigkeit zu arbeiten und dem Zwang zu arbeiten. Das ist eine Unterscheidung, die war mir vorher gar nicht im Sinn, die ist aber sehr wichtig, weil die Notwendigkeit zu arbeiten nicht bedeuten muss automatisch, dass die Kinder dann unter für sie unerträglichen Bedingungen arbeiten, sondern das vermittelt ihnen auch einen Stolz, dass sie was Notwendiges tun.
Timm: Das heißt, die ausbeuterische und knechtende Ausprägung von Kinderarbeit, die Sie natürlich auch nicht wollen, die ist letztlich eine Ausprägung des Armutsproblems, und dem Armutsproblem kommt man mit einer schlichten weltweiten Ächtung nicht wirklich bei?
Liebel: Genau so. Deswegen finde ich es so wichtig, dass man wirklich über Alternativen nachdenkt und vor allen Dingen auch Alternativen realisiert.
Timm: Nun sind ja die wenigsten Kinder, die hart arbeiten müssen, selbst wenn sie nicht versklavt sind, sind ja nun in der Lage, sich gewerkschaftlich zu vertreten. Das Beispiel, was Sie nennen, aus Lateinamerika ist sicherlich ein sehr schönes, aber wahrscheinlich ist es zum Beispiel auf dem afrikanischen Kontinent nicht sehr repräsentativ. Ich frage mich natürlich, man fühlt sich moralisch immer sehr gut und ist garantiert auf der richtigen Seite, wenn man Kinderarbeit ächtet, aber was nützt das einem teppichknüpfenden Kind in Bangladesch tatsächlich, wie könnte man dessen Situation tatsächlich verbessern, eben in einem kleineren Schritt als nun Kindergewerkschaften, die es dann doch sehr wenige gibt auf der Welt, vermute ich.
Liebel: Ja, gut, ich sag mal so, dies ist nur eine kleine Minderheit von Kindern, die in diesen Gewerkschaften organisiert sind, aber die Gewerkschaften haben eine gewisse Resonanz in ihren Ländern und werden auch von Kindern, die da nicht aktiv sind, durchaus auch wahrgenommen, insofern ist das nicht so belanglos. Aber ich gebe Ihnen recht, man muss Lösungen finden, sagen wir mal auf einer mehr generellen Ebene und auch natürlich über Gesetze, aber ich finde, es macht einen großen Unterschied, ob man jetzt in Gesetzen nur einfach festschreibt – wie das bisher gemacht wird –, dass Kinder etwa erst ab einem bestimmten Alter arbeiten dürfen, oder ob man bestimmte Schutzgarantien in die Gesetze hineinschreibt, die gewährleistet sein müssen bei Kindern, egal in welchem Alter sie sind, wenn sie arbeiten.
Und das nützt den Kindern viel eher, als wenn ihre Arbeit einfach verboten wird. Weil wenn sie verboten wird, haben sie überhaupt keine Rechte mehr bei der Arbeit, also sie sind praktisch illegalisiert. Und das ist das große Problem, das immer wieder auch von diesen Kinderorganisationen angesprochen wird, dass das Verbot zwar gut gemeint ist, aber letztlich sich für sie zumindest solange negativ auswirkt, wie sie keine Alternative haben.
Timm: Ein Gegenargument ist natürlich, dass es als Menschenrecht verstanden wird oder ein Menschenrecht ist, dass Kinder nicht bis an die Grenze der Erschöpfung arbeiten müssen und nicht zur Schule gehen können, nichts lernen können, und wenn Menschenrechte nicht universell sind, sondern verhandelbar, dann dreht sich ja die Spirale auch immer weiter.
Liebel: Ja, es gibt ja generell, also was Erwachsene betrifft, ein Recht zu arbeiten. Gut, aber warum ...
Timm: Bei Kindern offenbar mehr eine Pflicht.
Liebel: Ja, aber bei Kindern guckt man nur hin oder sagt man nur oft, dass sie überhaupt arbeiten, sei was Schlechtes. Da steckt eine bestimmte Vorstellung, ein bestimmtes Bild von Kindheit dahinter, das hier in Europa verbreitet ist und als normal gilt, das aber in vielen anderen Gesellschaften keineswegs normal ist. Und ich denke, dass Kinder arbeiten, ist nicht das Problem, sondern dass sie unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten und Gewalt erleben oder gezwungen werden zu arbeiten, das ist das Problem.
Und da muss man eben meines Erachtens an die Wurzel gehen, die aber eben nicht darin simpel besteht, dass man sagt, Kinder generell, wenn sie nicht ein bestimmtes Alter erreicht haben, können nicht mehr arbeiten, sondern wirklich ran an die Bedingungen – die Bedingungen ändern und entsprechende Gesetze beschließen, entsprechende Handlungspläne entwickeln, die dann auch entsprechend natürlich finanziell ausgestattet sein müssen und dann wirklich auch durchgeführt werden.
Timm: Der Soziologe Manfred Liebel, heute zum Tag gegen Kinderarbeit, und er plädiert für eine differenzierte Sicht auf die Millionen Kinder, die weltweit arbeiten müssen. Herr Liebel, ich danke Ihnen fürs Gespräch!
Liebel: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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