Gesellschaft in der Krise

Was stimmt nicht mit unserer Demokratie?

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Menschenmenge übergibt großen Würfel mit Ja oder Nein-Entscheidung.
„Wie lässt sich die Demokratie erhalten? Nur, indem man sie erweitert, meinen Klaus Dörre und Robin Celikates.“ © imago images/Ikon Images/Klaus Meinhardt
Moderation: Stephanie Rohde · 11.08.2019
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Populismus, Politikverdrossenheit, Stagnation: Es kriselt merklich in den Demokratien. Liegt das an unserem Wirtschaftssystem? Das diskutieren der Philosoph Robin Celikates und der Soziologe Klaus Dörre.
Ist der Kapitalismus schuld am desolaten Zustand der Demokratie? Diese These vertritt der Jenaer Wirtschaftssoziologe Klaus Dörre: Kapitalismus und Demokratie stünden in einem Spannungsverhältnis und das werde angesichts sinkender Wachstumsraten nun verstärkt auch im globalen Norden spürbar, da die sozialen Verwerfungen nicht mehr durch Wohlstandsgewinne befriedet werden könnten. Von einer Krise der demokratischen Idee mag Dörre dagegen nicht sprechen: "Ich glaube, dass demokratische Institutionen – Parlamentarismus, Mehrheitsprinzip, eingebettet in Menschen- und Völkerrecht – nach wie vor eine große Ausstrahlung haben."
Der Sozialphilosoph Robin Celikates, der ab Herbst an der Berliner FU lehren wird, sieht dagegen die Institutionen der Demokratie in der Krise und die politische Kultur, auf die sie sich stützt. Er stellt fest, dass demokratische Verfahren, "auf die wir uns verlassen haben, nicht mehr so gut funktionieren" und dass die "Akzeptanz von Pluralität, Toleranz, wechselseitige Anerkennung" nicht mehr selbstverständlich unterstellt werden könnten. Zwar sieht auch Celikates ein "Widerspruchsverhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie", glaubt aber nicht, "dass man die Komplexität der Krise der Demokratie nur mit Bezug auf die Entwicklung des Kapitalismus erklären kann".

Kommt die Krise vom Kapitalismus?

Dörre diagnostiziert eine "ökonomisch-ökologische Zangenkrise" der kapitalistischen Demokratien: "Ökonomisches Wachstum war immer die Voraussetzung für die Pazifizierung des industriellen Klassenkonflikts, wie das Habermas genannt hat, und es ist immer unterstellt worden, dass das so weitergeht." Inzwischen aber habe das Wachstum auf Basis fossiler Energien einen Schwellenwert erreicht, der das Ökosystem unumkehrbar destabilisiere, was sich inzwischen auch in den wohlhabenden Ländern bemerkbar mache.
Ressourcenintensives Wachstum – das wichtigste Mittel, um Wirtschaftskrisen und gesellschaftliche Spaltungen im Kapitalismus zu überwinden – treibe zugleich die Zerstörung der Umwelt und unserer Lebensgrundlagen voran. Das Bemühen um wirtschaftliche Stabilität münde so in ökologische und soziale Destabilisierung.
Damit stünden die demokratischen Gesellschaften vor einem Dilemma, das sich nur durch eine "dramatische Veränderung ihrer Produktionssysteme und ihrer Lebensweisen" lösen lasse, meint Dörre und führt weiter aus:
"Diese Entscheidungssituation führt dazu, dass die Eliten geradezu ratlos sind und dass die Einmischung der Vielen – das bedeutet ja Demokratie – zum Problem wird, weil es schwieriger wird, politisches Handeln zu legitimieren."
Porträt von Robin Celikates, deutscher Sozialwissenschaftler und Philosoph.
Robin Celikates, deutscher Sozialwissenschaftler und Philosoph.© privat
Celikates stimmt dieser Diagnose im Wesentlichen zu und ergänzt: "Was wir jetzt als Krise erfahren, war an anderen Orten, zu anderen Zeiten für viele Menschen auf der Erde Realität – die fragile Konstruktion eines zeitlich begrenzten Kompromisses zwischen Kapitalismus und Demokratie hat an vielen Orten und für viele Bevölkerungsgruppen nie auf diese Weise funktioniert." Dennoch, hält er fest, müsse man "noch andere, politisch-kulturelle Faktoren mit in Betrachtung ziehen".

Die Demokratie erweitern, um sie zu erhalten

Ein entscheidendes Problem sieht Celikates in der mangelnden Einbindung betroffener, aber marginalisierter Gruppen in den politischen Entscheidungsprozess. Deshalb plädiert er dafür, "auch jenseits der existierenden Institutionen nach neuen Verfahren und Institutionen der Demokratie [zu] suchen" – und zwar gerade auch über den Nationalstaat hinaus.
"Nur so werden wir die tatsächlich Betroffenen wirksam integrieren können, weil, oft sind sie ja gar nicht mehr Teil einer Gemeinschaft der Staatsbürger, sondern entweder als irreguläre Migranten auf dem Territorium oder werden durch Entscheidungen aus einem Land in einem ganz anderen Land tangiert."
Auch Dörre vertritt die These, "dass man Demokratie nur erhalten kann, wenn man sie ausweitet", und zwar insbesondere auf den Bereich der Wirtschaft:
"Wir müssen uns fragen, ob es unter Bedingungen der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, wo die Entscheidungen großer Unternehmen Überlebensinteressen der Menschheit tangieren, noch angemessen ist, dass diese Entscheidungen von Wirtschaftseliten getroffen werden. Oder ob wir nicht Entscheidungsmacht in den ökonomischen Institutionen rückverteilen müssen an die Gesellschaft."

Wie kann eine nachhaltige Wirtschaft aussehen?

Dabei sieht er den Ansatzpunkt dafür zunächst auf der Ebene des Nationalstaats, da es hier bereits mehr demokratische Rechte gebe, an die man anknüpfen könne. So schlägt er beispielsweise vor, bei Bundestagswahlen auch über den Einsatz gesellschaftlicher Ressourcen abstimmen zu lassen. Darüber hinaus befürwortet er es, große Unternehmen in "Mitarbeiter- und Mitarbeiterinnen-Gesellschaften" umzuwandeln – also in eine neue Eigentumsform, "die nicht Staatseigentum, aber auch nicht Privatbesitz ist, sondern eine Art kollektives Selbsteigentum, wie in genossenschaftlichen Organisationen".
Porträt des Wirtschaftssoziologen Klaus Dörre.
Porträt des Wirtschaftssoziologen Klaus Dörre.© dpa/ Michael Schinke
Für einen vielversprechenden Anfang hält Dörre auch die Idee, Nachhaltigkeitsziele im Grundgesetz zu verankern – wie es jüngst auch der CSU-Vorsitzende Söder gefordert hat.

Mehrheiten finden für eine andere Gesellschaft

Wie aber sollen sich für derart umfassende Veränderungen des politischen Systems Mehrheiten finden? Hier setzen Dörre und Celikates vor allem auf soziale Bewegungen, die Ideen für eine demokratisch-ökologische Transformation aufgreifen und in die Gesellschaft hineintragen. Ein Beispiel für eine Bewegung, die aus der Mitte der Gesellschaft Druck aufbauen und Mehrheiten generieren könnte, sehen sie in "Fridays for Future".
Auch gebe es zahlreiche Anknüpfungspunkte für alternative Lebens- und Produktionsformen, betont Dörre: "Ein Drittel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts wird inzwischen genossenschaftlich oder in solidarischer Ökonomie erzeugt, oft unter sehr prekären Bedingungen." Von diesen "nicht-kapitalistischen Formen der Produktion" könne man sich inspirieren lassen: "Wenn man die Sonde so anlegt auch an unsere Gesellschaft, wo gibt’s schon was, was anders funktioniert, als die großen kapitalistischen Unternehmen, wird man eine ganze Menge finden."

Demokratie ohne Wohlstandsversprechen?

In Zukunft müsse Demokratie ohne das klassische Wohlstandsversprechen auskommen, auf dem die Stabilität der westlichen Demokratien bisher gründete, so meinen beide übereinstimmend. Allerdings müssten bei weitem nicht alle gleichermaßen verzichten, betont Dörre. So gehe ein Großteil der zusätzlichen CO2-Emissionen seit 1990 auf die "wachsende Ungleichheit innerhalb der Staaten" zurück, weil immer mehr Reiche immer mehr konsumierten: "Mehr substanzielle Gleichheit wäre auch ein Beitrag zu ökologischer Nachhaltigkeit." Vor diesem Hintergrund brauche es ein neues Wohlfahrtsversprechen, das stärker auf die "Entfaltung der Fähigkeiten" setze statt auf einen "Luxuskonsum der Eliten".
Statt massenhafter "Selbstkasteiung" bedürfe es grundsätzlicher Veränderungen, ist auch Celikates überzeugt:
"Natürlich ist es gut, wenn Leute wiederverwertbare Strohhalme benutzen und das sollen sie auch tun, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die radikalen Reformen auf einer anderen Ebene ansetzen müssen – bei der Großindustrie oder den Lebensstilen."

"Was stimmt nicht mit der Demokratie? - Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
271 Seiten, 20 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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