Gesellschaft im Therapiemodus

Wir psychologisieren uns zu Tode

04:20 Minuten
Eine Frau schaut durch ein Prisma, in dem sich ihre Augen spiegeln.
Das einstige Befreiungsversprechen des therapeutischen Diskurses hat sich erschöpft, kritisiert die Journalistin Ann-Kristin Tlusty. © Eyeem / Jonas Hafner
Gedanken von Ann-Kristin Tlusty · 29.10.2020
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Mit Freuds Psychoanalyse im Gepäck traten die 68er an, um das Individuum von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien. Doch das hat einen Hyperindividualismus befördert, der gesellschaftliche Probleme zu persönlichen verklärt, meint Ann-Kristin Tlusty.
Neulich schrieb mir ein Freund, er sei mit unserer Kommunikation unzufrieden. Er wolle mir bloß spiegeln, dass ich auf seine Nachrichten recht lang nicht antworte. Und er wolle Transparenz schaffen, damit ich meine Bedürfnisse nennen könne.
Kommunikation über die Kommunikation, Spiegeln, Transparenz, Bedürfnisse. Der Sound dieser Nachricht ist mir wohlvertraut. Das Vokabular eines psychotherapeutischen Settings ist in meinem Umfeld keine Seltenheit: Mein Freundeskreis unterhält sich seinem Milieu (urbane Mittelklasse) und seiner Generation (Millennials) gemäß gern über Themen und Traumata, über Wünsche, toxische Beziehungen und die Notwendigkeit, sich abzugrenzen. Warum sprechen wir über uns selbst, als seien wir unsere eigene Patientin?
Therapeutischen Diskurs nennt das die Soziologin Eva Illouz. Sie sieht in dieser speziellen Kommunikation eine "qualitativ neue Sprache des Selbst". In ihrem Buch "Die Errettung der modernen Seele" geht sie der Frage nach, wie der therapeutische Diskurs zu einer der wirkmächtigsten Kommunikationsformen des 20. Jahrhunderts werden konnte – und beginnt bei Sigmund Freud. Dem Begründer der Psychoanalyse sei es gelungen, die Auseinandersetzung mit den eigenen Ticks und Regungen "mit einer Sinnhaftigkeit aufzuladen, mittels derer sich das Selbst formieren" ließe.

Therapiediskurs begünstigt Hyperindividualismus

Mithilfe der Ratgeberliteratur, der Werbung und des Kinos von Alfred Hitchcock und Woody Allen hat sich, so Illouz' These, das freudianische Paradigma der Selbsterkundung im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts durchsetzen können. Die 68er-Bewegung nutzte das therapeutische Wissen, um sich gegen sexuelle Repression, familiäre Enge und psychopathologische Tabuisierung zur Wehr zu setzen. Raus aus dem Joch der Kernfamilie! Die Zwänge des Über-Ichs bekämpfen! Sexuelles Begehren frei erkunden!
Für den emanzipatorischen Geist der Sechzigerjahre bot die Freudsche Lehre ein adäquates Mittel: Der Mäßigung setzte sie den Genuss entgegen, an die Stelle der Autoritäten trat die Selbsterkundung. Dabei waren diese Kämpfe politisch. Sie werteten das Individuum in Opposition zur gesellschaftlichen Übermacht besonders auf – mit gravierenden Folgen: Sexueller Konsens ist an die Stelle der Moral getreten, Familienkonstellationen haben sich ausdifferenziert, und das Reden über den psychischen Knacks gehört zum beliebten Accessoire der neuen Mittelklasse.
Das therapeutische Sprechen nannte der New Yorker Literaturkritiker Lionel Trilling mal den "Slang unserer Kultur". Und das einstige Befreiungsversprechen dieses Slangs hat sich im 21. Jahrhundert erschöpft. Mehr noch: Der therapeutische Kampf hat sich zu Tode gesiegt. Denn der Therapiediskurs begünstigt einen Hyperindividualismus, der gesellschaftliche Probleme zu persönlichen verklärt. So schließt er unbewusst an Margaret Thatchers Diktum an, es gäbe keine Gesellschaft – there is no such thing as society.

Die Misere ist strukturell, nicht persönlich

Die Generation der Millennials wird die erste der Neuzeit sein, der es finanziell schlechter gehen wird als ihren Eltern. Sollten wir angesichts dessen nicht lieber den toxischen Niedergang des Sozialstaats thematisieren? Unsere Bedürfnisse – nach Fürsorge, Unterstützung und Sicherheit – nicht nur privat, sondern auch politisch verstehen? Uns abgrenzen vom Paradigma der Produktivität, das bis in unsere Intimbeziehungen greift? Und das Zusammenspiel von Klimakrise, globaler Pandemie, abschottender Grenzpolitik und aufkommendem Faschismus als traumatisierend begreifen? Kurz: Sollten uns die Themen, über die wir kommunizieren, nicht einen Anlass bieten, unsere persönliche Malaise als strukturelle Misere zu begreifen?

Ann-Kristin Tlusty, geboren 1994, arbeitet als Redakteurin bei ZEIT ONLINE. Studium der Kulturwissenschaften und Psychologie. Lebt in Berlin.

© Nico Blacha
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