Geschlechterfragen

Es ist ein Mensch

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Illustration: Ein Mädchen und ein Junge formen ein Herz aus Wassermelonenkernen.
Jörg Phil Friedrich ermutigt, sich im Alltag immer wieder mal zu fragen, warum man so spricht, wie man gerade spricht. © imago / fStop images / Malte Müller
Überlegungen von Jörg Phil Friedrich · 20.05.2021
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"Mädchen oder Junge?" Die Frage nach dem Geschlecht ist tief in unserer Kultur verankert. Manchmal ist sie notwendig und sinnvoll, oft aber auch entbehrlich. Ist es ratsam, sie ständig ins Rampenlicht zu zerren, fragt der Philosoph Jörg Phil Friedrich.
"Wisst ihr schon, was es wird?" – das ist oft die erste Frage, die werdenden Eltern gestellt wird. "Was ist es denn?", fragen die Bekannten, wenn sie in den Kinderwagen schauen. "Ein Kind" oder "ein Mensch" wäre die, zugegeben, triviale aber zutreffende Antwort, aber gemeint ist: "Mädchen oder Junge?"
Die Frage nach dem Geschlecht bleibt das ganze Leben über eine der ersten Fragen. Wenn Studierende an der örtlichen Universität am Ende des Semesters einen Fragebogen ausfüllen sollen, der ihr Urteil über ein Seminar erfassen soll, werden sie als Erstes nach ihrem Geschlecht gefragt. Wenn wir Post von der Behörde bekommen, dann steht da, es würde uns "Frau Müller" oder "Herr Meier" schreiben.

Oft ist das Geschlecht nicht wirklich wichtig

Warum wird ständig betont, was für ein Geschlecht jemand hat, auch wenn es gerade ganz unwichtig ist? Natürlich gibt es viele Momente, wo es aufs Geschlecht ankommt, und es ist für eine Gesellschaft überlebenswichtig, dass es zwei verschiedene Geschlechter gibt und dass sich irgendwann mal eine Person des einen mit einer Person des anderen Geschlechts zusammenfindet, damit wieder neue Personen entstehen, die den Vorgang des Zusammenfindens irgendwann wieder vollziehen.

Es ist also keineswegs unwichtig, dass man erkennt, ob ein Mensch, dem man begegnet, dem gleichen oder dem anderen Geschlecht angehört. Es mag sein, dass die besondere Betonung des Geschlechts damit zu tun hat. Aber unterm Strich, über alle Begegnungen und Beziehungen des Lebens hin betrachtet, ist es doch meistens ganz egal.
Wir sprechen gegenwärtig oft über die Frage, wie wir unsere Sprache verändern könnten, um Männer und Frauen nicht unterschiedlich zu behandeln, wo das Geschlecht keinen Unterschied machen sollte und Menschen nicht auszugrenzen, die sich keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen. Das bleibt schwierig, weil wir unsere Sprache nicht in der Hand haben, weil wir nicht nach Belieben mit ihr verfahren können. Sie entsteht zwar im Sprechen, also im Handeln jeder einzelnen sprechenden Person, aber sie existiert zwischen den Sprechenden, und führt dort ein Eigenleben.

Es gibt keine sprachlich befriedigende Lösung

Manches, was Augenhöhe erzeugen soll, schafft genau wieder die Markierung des Geschlechts, die eigentlich aufgelöst werden sollte. Das ist und bleibt ein offener Prozess, bei dem es vermutlich keine richtige Lösung für sprachliche Veränderungen gibt. Wir leben in einer Zeit, in der viele verschiedene Ansätze verfolgt werden, um Sprache bewusst zu verändern, und es ist ungewiss, zu welchen Lösungen die Sprache kommt.
Ein ziemlich einfaches Experiment könnte es sein, die geschlechtsspezifische Ansprache, die Benennung des Geschlechts oder die Frage nach dem Geschlecht zu vermeiden, wenn sie nicht gebraucht wird. Die nächste Mail an Max Meier einfach mit "Hallo Max Meier" beginnen statt mit "Sehr geehrter Herr Meier". Die glücklichen Eltern nicht fragen – "Was ist es denn?", sondern "Wie groß ist es?". Und in dem Fragebogen die Frage nach dem Geschlecht einfach mal nicht beantworten – weil es doch wirklich keine Rolle spielt, wenn es um die Bewertung eines Seminars geht.
Vielleicht hilft es einer Sprache, die den meisten Menschen gerecht wird, weniger, wenn wir uns starr an neue Regeln zu halten versuchen, mit denen wir doch nicht richtig warm werden. Vielleicht ist es besser, stattdessen im Alltag immer wieder mal die Frage zu stellen, warum man eigentlich so spricht, wie man gerade spricht, und ob es nicht Alternativen gäbe, die womöglich sogar schöner, persönlicher, freundlicher sind und von wirklichem Interesse an der anderen Person zeugen. Welches Geschlecht die hat, das wird man ganz sicher herausfinden, wenn es darauf ankommt.

Jörg Phil Friedrich (geb. 1965) ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie. Er ist Mitbegründer des Softwarehauses INDAL in Münster. Heute entwickelt er Software und schreibt philosophische Texte. Zuletzt erschien sein Buch "Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?" (Alber 2019).

© Heike Rost
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