Geschichten mit Sowjetnostalgie

Rezensiert von Michael Groth · 12.08.2012
In dem Buch beschreiben die Autoren 15 ehemalige Sowjetrepubliken. Dabei geht es um die wirtschaftliche Entwicklung, Krisen und Kriege sowie um die Willkür postsozialistischer Diktaturen. Es werden Zusammenhänge erklärt und Unterschiede beschrieben - ergänzt durch eine landeskundlich-politische Chronologie.
Am 19 .August des folgenden Jahres zeigt der Tiger nochmals seine Klauen: orthodoxe Kommunisten putschen gegen den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow. Nach drei Tagen ist der Spuk vorbei – nicht zuletzt dank des russischen Präsidenten Jelzin.

Am 8.12.1991 gründet Jelzin mit den Führern der Unionsrepubliken Ukraine und Weißrussland, Krawtschuk und Schuschkewitsch die "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten", GUS. Noch im gleichen Monat verkünden die drei neuen Staatschefs gemeinsam mit den Führern der ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan das Ende der Sowjetunion.

Bei den Menschen, so Thomas Kunze, einer der Autoren, kommt das nicht gut an:

"Das Verbindende in den 15 früheren Sowjetrepubliken ist bis heute eine erstaunlich große Sowjetnostalgie geblieben."


Die ideologisch überfrachteten Strukturen brechen ein. Nach 1991 verkommt das Gesundheitswesen auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR; Bildung und Wissenschaft geht es nicht viel besser. Gemeinsamkeiten gibt es nicht nur in der Mangelwirtschaft. Thomas Kunze:

"Verbindend ist natürlich auch die gemeinsame Vergangenheit, die schlimme Vergangenheit der Sowjetunion, das ist der Stalinismus. Ich glaube es gibt kaum eine Familie auf dem Territorium der früheren Sowjetunion, die nicht direkt oder indirekt mit den Repressionen des Stalinsystems in Kontakt gekommen ist. Das betrifft nicht nur Russland, das betrifft auch die mittelasiatischen früheren Sowjetrepubliken, das betrifft auch den Süd-Kaukasus."

Dennoch funktionieren die Verdrängungsmechanismen. Stalin gilt eben nicht nur als Diktator, er gilt auch als Kriegsgewinner und Modernisierer. An den postsowjetischen Führungseliten wird deutlich:

"Eine Neigung zu autoritären Führungsfiguren ist unverkennbar."

Da kommt Putin gerade richtig. Es gibt indes auch harmlose Gemeinsamkeiten: musikalische und cineastische Erinnerungen, Kultsendungen im Fernsehen, Feiertage, Traditionen, Gewohnheiten – nicht zuletzt Essgewohnheiten.

"Mayonnaise gehört zu den Grundnahrungsmitteln, und den sowjetischen Salat "Oliwje", ein kalorienreicher Fleisch-Kartoffel-Salat, kennt vom Polarmeer bis an die afghanische Grenze und vom weißrussischen Bresk bis nach Sachalin jeder Bewohner."

Und natürlich den Wodka. Das "Wässerchen" hilft in allen Lebenslagen, vom Baltikum bis Wladiwostok.

Neben den wiederentdeckten Nationalsprachen bleibt russisch in der ganzen ehemaligen Sowjetunion zweite Umgangssprache.

Seit 2004 sind die baltischen Staaten Mitglied der Nato und der Europäischen Union. Vor allem ersteres wird von Moskau als Provokation empfunden. Vladimir Putin erkennt, dass die GUS keinen Gegenpol zur Nato bildet. Ein Zitat des nunmehr in dritter Amtzeit herrschenden russischen Präsidenten:

"Die GUS wurde gebildet, um einen zivilisierten Scheidungsprozess zu ermöglichen. Alles andere ist Beiwerk."

2008 dringen georgische Truppen in Süd-Ossetien ein. Russland reagiert mit einem Gegenangriff. Der Versuch, die Provinz an Georgien zu binden, wird für Präsident Saakaschwili zum Desaster. Eine Folge: Georgien verlässt die GUS. Im gleichen Jahr legt die Nato die Beitrittsverhandlungen mit Georgien und der Ukraine auf Eis. Der Westen hat andere Baustellen und kann sich den Konflikt mit Putin nicht leisten.

Wichtiger als die GUS ist inzwischen die 2002 gegründete "Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit". Neben Russland und China gehören ihr Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan an.

"Sie kooperieren mittlerweile nicht nur bei der Terrorismusbekämpfung und im sicherheitspolitischen Bereich miteinander, sondern auch in Energie-, Wirtschafts- und Handelsfragen. Das Bündnis hat sich, vom Westen beinahe unbemerkt, zu einem geopolitischen Akteur entwickelt."

Die Autoren beschreiben 15 ehemalige Sowjetrepubliken: von A wie Armenien bis U wie Usbekistan. Die wirtschaftliche Entwicklung, Krisen und Kriege sowie die Willkür post-sozialistischer Diktatoren. Es werden Zusammenhänge erklärt, Unterschiede beschrieben; ergänzt durch eine landeskundlich-politischen Chronologie. Thomas Kunze über einen komplizierten Abnabelungsprozess:

"Es war schwierig, weil Russland natürlich bis heute ein Art Zentrum geblieben ist, die wirtschaftlichen, die energiepolitischen Stränge laufen in irgendeiner Art und Weise immer wieder in Moskau zusammen. Das ist in vielerlei Hinsicht bis heute geblieben."

1990 bricht die Sowjetunion – das größte Land der Welt – in Einzelteile. Die Menschen gehen unterschiedliche Wege. Nicht alle nutzen ihre neue Freiheit. Die Bilanz der Autoren Kunze und Vogel verschweigt die dunklen Seiten nicht:

"Vielen Menschen geht es schlechter als in den Jahren, in denen die Sowjetunion noch existierte. In den Provinzen der 15 früheren Sowjetrepubliken, abseits der großen, boomenden Städte, trifft man oft auf Tristesse und Verfall. Ein Teil der älteren Generation sehnt sich heute nach der gefühlten Sicherheit und Geborgenheit der alten Zeit zurück. Eine zunehmende Zahl junger Menschen sucht nach der Verwirklichung ihrer Träume im Ausland. Aufbruchstimmung, Depression, neuer Reichtum, neue Armut und Sowjetnostalgie gehen Hand in Hand."

Russland bleibt mit Europa verbunden, es wird Teil einer zukünftigen Struktur, die über die EU hinaus geht. Diese Voraussage wagen die Autoren. Für den Rest des ehemaligen Sowjetreiches sieht es da schon schlechter aus. Ein lesenswertes Buch.

Rezensiert von Michael Groth

Thomas Kunze und Thomas Vogel: Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit - Eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken
Christoph Links Verlag Berlin
288 Seiten, 19,90 Euro
Cover: "Kunze/Vogel: Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit"
Cover: "Kunze/Vogel: Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit"© Ch. Links Verlag Berlin