Geschichten hinter den Grabsteinen

Britta Wauer im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.04.2011
Im Norden Berlins befindet sich der größte jüdische Friedhof Europas. Ein Ort mit Tradition und lebendiger Gegenwart. Die Filmemacherin Britta Wauer wollte mit "Im Himmel, unter der Erde" kein stilles trauriges Werk über den Tod schaffen.
Dieter Kassel: Vanja Budde über "Im Himmel, unter der Erde". Der Film über den Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee ist ab heute in Dresden, Düsseldorf, Frankfurt am Main, München und Berlin in den Kinos zu sehen, dann ab Ende des Monats, Anfang Mai zu unterschiedlichen Terminen noch in etwa einem Dutzend weiterer Orte. Bei mir im Studio ist jetzt die Regisseurin des Films, Britta Wauer, schönen guten Tag!

Britta Wauer: Hallo, schönen guten Tag!

Kassel: Sie waren inzwischen ja über fünf Jahre fast ständig in diesem Friedhof, aber wann fand Ihre erste Begegnung mit dem Friedhof statt und wie?

Wauer: Das ist schon zu Kinderzeiten gewesen. Ich bin ja in Ostberlin aufgewachsen und kannte diesen jüdischen Friedhof. Ich habe sogar Unterricht dort in der Nähe gehabt und wusste immer, dass der dort ist, und bin ein paar Mal dort gewesen, aber lange Zeit nicht, bevor ich dann eben vor viereinhalb Jahren die Frage erhielt, ob ich mir vorstellen könnte, einen Film über diesen Friedhof zu machen.

Kassel: Und war die Antwort ein großes, fröhliches Ja?

Wauer: Nein, ganz im Gegenteil! Ich hatte große Aversionen, wie wahrscheinlich jeder, der jetzt erst mal denkt: Ein Friedhofsfilm? Ein Film über den Tod, wer soll sich das denn anschauen? Ich war sehr skeptisch, und auch meine Mitarbeiter, mein Cutter, mein Komponist, alle haben gesagt, wer soll sich das angucken? Du bist doch selber noch so jung, warum willst du dich damit beschäftigen? Und mich haben dann doch umgestimmt die vielen Menschen, die sich gemeldet hatten auf einen Aufruf in einer Zeitung, und ich war mir einfach sicher, ich möchte Geschichten erzählen, wenn schon in einem Film, dann eben Geschichten, die man gar nicht sehen kann, wenn man da auf dem Friedhof spazieren geht, eben Geschichten hinter den Grabsteinen, von Angehörigen, von Menschen, die dort gelebt, gearbeitet haben, geliebt haben, und eben auch eine ganz andere Seite, eine leichtere, heitere Seite. Denn der Tod erwartet uns ja alle und deswegen kann man sich auch ruhig mal damit befassen.

Kassel: Nun ist es wirklich so, dass man in diesem Film – wir reden ja über einen Kinofilm, muss man auch noch sagen, also fünf, sechs Minuten kann man schon mal machen über einen Friedhof, aber wir reden ja wirklich über einen abendfüllenden Film – dass man sehr viele Menschen, lebendige Menschen sieht, und das wirkt jetzt auch bei Ihnen so, das ist ein bisschen auch Ihre magische Formel gewesen gegen den Tod. Man hat eigentlich, wenn man den Film sieht, nur ganz selten das Gefühl, man ist eigentlich auf einem Totengelände.

Wauer: Ja, unbedingt. Ich glaube, der Tod ist immer so ein Tabu oder etwas, womit man sich nicht so gerne befasst. Und ich finde es ganz toll, wie der Rabbiner über diese jüdischen Traditionen spricht und sagt, dass es wichtig ist, Trauernde mit einzubeziehen in das Leben, denn das Leben geht ja weiter, und sie sollen nicht bloßgestellt werden oder allein sein in ihrem Schmerz. Dass es schmerzhaft ist, ist klar, aber das Leben geht ja weiter, es geht um die Lebenden. Und irgendwie so wollte ich das auch mit diesem Film und diesem Thema handhaben, dass man die Menschen einbezieht, die immer noch damit zu tun haben und für die das selbstverständlich ist oder ein ganz großer Teil ihres Lebens, ein Schicksalsplatz auch gewesen ist. All so was wollte ich eben finden.

Kassel: Wir haben das vorhin in dem kleinen Bericht von Vanja Budde gehört: Natürlich spielt der Holocaust ja schon eine Rolle, das kann man ja nicht weglassen, wenn man über einen jüdischen Friedhof in Deutschland, in Berlin auch noch, einen solchen Dokumentarfilm dreht. Er spielt sogar allerdings, finde ich, eine relativ kleine, und das fand ich, sage ich sofort dazu, auch ziemlich angenehm, weil man an ihrem Film wirklich merkt, 1880 wurde da das erste Mal jemand bestattet, und – das ist ja sehr, sehr wichtig – immer noch werden da Menschen bestattet. Das heißt, da sind wir schon wieder an diesem scheinbaren Widerspruch an sich, ein lebendiger Friedhof.

Wauer: Genau. Er ist nach wie vor in Betrieb, in Benutzung und schreibt eben seine Geschichte fort, eben dadurch, dass sich die jüdischen Gemeinden jetzt auch ganz anders zusammensetzen. Über 80 Prozent der Gemeindemitglieder kommen aus der ehemaligen Sowjetunion und bringen eben ihre Bräuche mit. Und auch das wollte ich natürlich im Film zeigen, und ich wollte auch zeigen, wie selbstverständlich vor 100, 130 Jahren jüdische Menschen hier in Berlin gelebt haben, in Deutschland, in Weißensee bestattet zu werden, das war der Ort, the place to be, habe ich mal so gesagt, ich meine, das ist man ja dann eher, wenn man gestorben ist, aber tatsächlich auch, wenn die Menschen in Kassel oder irgendwo in Preußen, Vorpommern, irgendwo gestorben sind, haben die sich in Weißensee beisetzen lassen. Und die haben auch diese Mausoleen, auch völlig untypisch für einen Juden, in sehr große Grabmäler setzen lassen. Und zu Lebzeiten sich schon daran erfreut und auch geguckt, was macht denn der Nachbar, ah!, der hat da noch was angebaut, dann müssen wir aber auch. Das war eben, um auch selbstverständlich zu zeigen, wer man ist und wie man angekommen ist in dieser Gesellschaft.

Kassel: Wie freimütig waren denn die jüdische Gemeinde und die Friedhofsverwaltung bis hin zum Senat von Berlin, der ja auch mit zuständig ist, Ihnen gegenüber? War das einfach, an so einem speziellen Ort zu drehen?

Wauer: Wir haben uns am Anfang zusammengesetzt tatsächlich mit der Senatskanzlei, mit der jüdischen Gemeinde, mit dem Centrum Judaicum, die mich sehr unterstützt haben bei allen Recherchen. Natürlich sind viele Leute skeptisch gewesen. Alleine um dort zu drehen, betritt man ja Gräber, trampelt – ob man das nun mag oder nicht – eben auch auf anderen Grabstellen herum. Da Gefühle nicht zu verletzen oder auch Menschen, die tatsächlich trauern, wir können ja da völlig unbeeindruckt langgehen, weil ich habe da keine Angehörigen, ich verbinde diesen Ort nicht mit Schmerz. Aber diesem allem auch irgendwie gerecht zu werden, und Menschen nicht zu verletzen, das war schon, glaube ich, eine große Angst. Und da hat uns sehr geholfen, dass wir so lange dort drehen konnten – wir haben über zwei Jahre in Weißensee gedreht – und so sind auch, ich möchte fast sagen, Freundschaften entstanden, auch mit den Friedhofsmitarbeitern. Viele haben Anteil genommen an dem Werden dieses Films.

Kassel: Über zwei Jahre gedreht, haben Sie gerade gesagt, auf dem Friedhof, die Gesamtarbeiten an dem Film haben noch viel länger gedauert, und ich würde mal unterstellen als Filmlaie, das hatte auch mehr, als vielleicht üblich ist bei einem Dokumentarfilm, mit der Musik zu tun. Denn – ich vereinfache mal sehr stark – zumindest bei einer schnellen Fernsehdokumentation hat man eigentlich einen Mitarbeiter, den schickt man ins Archiv, sagt, an der Stelle soll es ruhig nachdenklich sein, da flott und da sehr neutral, und darf nichts kosten. Bei Ihnen hat die Musik ziemlich viel gekostet und das war alles ziemlich aufwendig?

Wauer: Ja, auf jeden Fall ist das sehr ungewöhnlich für einen Dokumentarfilm, so eine große Musik zu haben. Ich wollte das aber gerne, weil das für mich auch ein Ausdruck ist von Lebendigkeit, von Lebensfrohheit und auch von der Heiterkeit, und sie ist auch an manchen Stellen sehr anrührend. Und diese Musik ist eben mit dem großen Brandenburgischen Staatsorchester in Frankfurt eingespielt worden. Komponiert hat die Musik Karim Sebastian Elias, und ich bin ihm wirklich sehr dankbar. Er kommt mir da auch entgegen, er machte große andere Tatorte und viel – produziert wirklich viel, und dass er sich dann Zeit nimmt für so einen kleinen Film und es eben auch möglich macht, dass wir so eine Musik uns leisten können – zu einem kleineren Preis, als es andere Produktionen aus ihrem Budget zahlen können.

Kassel: Man darf es ja nicht sagen, aber sagen wir mal, sechsstellig war es trotzdem, oder?

Wauer: Nein.

Kassel: Nicht mal?

Wauer: Nein.

Kassel: Da wird er uns jetzt böse sein, wenn wir erzählen, zu welchem Preis man ihn …

Wauer: Nein, nein. Deswegen bin ich da auch immer so vorsichtig, weil ich ja auch nicht … ich bin ihm wirklich dankbar, und ich weiß, es gibt viele Menschen oder manche Menschen, denen die Musik zu aufdringlich ist oder zu stark, aber ich muss ihn da in Schutz nehmen. Das habe ich so gewollt, und ich möchte es und ich bin sehr dankbar und ich glaube auch, dass es dem Zuschauer doch hilft, sich mit diesem schwierigen Thema zu befassen und sich auch auf diese Geschichten einzulassen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Britta Wauer, sie hat einen Film gemacht über den jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. "Im Himmel unter der Erde" heißt er. Sie haben ja schon zugegeben, Ihre Begeisterung war ganz am Anfang – ich formuliere das vorsichtig – nicht ganz uneingeschränkt. Das hat sich entwickelt am Beginn der Recherche. Sie haben auch gesagt, ich bin relativ jung und eigentlich wollte ich mich nicht mit dem Tod beschäftigen. Haben Sie das auch komplett vermeiden können, die vielen Jahre, oder haben Sie manchmal alleine zwischen diesen alten Gräbern gestanden und doch über den Tod nachgedacht?

Wauer: Viel. Es ist ja auch so, dass in dieser Zeit andere Menschen aus meinem Umfeld gestorben sind. Keine sehr engen Verwandten, aber doch geht einem das natürlich nahe, oder man erlebt von Mitarbeitern, dass plötzlich jemand sterbenskrank ist und dann auch stirbt. Da denke ich viel drüber nach, und ich denke vor allen Dingen an die Worte von Willi Wolff, dem Rabbiner, der auch im Film zu Wort kommt, dass man die Trauernden dann nicht alleine lassen soll. Und früher hätte ich, glaube ich, mich hingesetzt und einen Brief geschrieben und mein Beileid irgendwie ausgedrückt, jetzt greife ich zum Telefonhörer und rufe an. Und ich glaube, dass das auch für mich die Sache ganz anders betrachten lässt, wie man eben mit dem Tod und auch mit den Trauernden umgeht.

Kassel: Wolff ist übrigens trotz dieser Aussagen, wie ich finde, eine der unterhaltsamsten Figuren in dem Film. Und da gibt es viele unterhaltsame Figuren. Aber was er sagt – wir verraten nichts, man soll den Film ja sehen –, eins verrate ich noch, das sieht man auch in Ihrem Film: Es gibt eine Wohnung auf diesem Friedhof, da wohnt eine kleine Familie, Mama, Papa, Kind, relativ kleines Kind, die kommen auch vor. Das ist eine ganz normale Wohnung. Das sind auch keine Juden, die da wohnen, die haben die normal bekommen, zahlen Miete. Sie haben ja gesagt, es ist inzwischen ja viel leichter geworden für Sie, durch diesen Friedhof zu gehen überhaupt. Können Sie sich, wenn die frei wird, vorstellen, in die Wohnung zu ziehen?

Wauer: Ich wohne selber in einer ganz tollen Wohnung. Aber ich muss schon sagen, dass ich manchmal ganz neidisch darauf bin. Da so einen riesigen Garten vor der Wohnungstür zu haben, den man quasi ja fast alleine hat, besonders dann hätte ich ihn natürlich auch, nachdem der Friedhof abends geschlossen wird, oder am Samstag ist ja ein jüdischer Friedhof auch wegen Sabbatruhe geschlossen. Aber da sind die nun doch so, dass sie den Friedhof selber nicht betreten, also sie gehen den kürzesten Weg zu ihrer Wohnungstür, aber sie gehen dort nicht joggen oder machen dort keine Partys oder fahren eben auch nicht Fahrrad, sondern versuchen sich schon bewusst zu sein, an welchem Ort sie leben. Aber sie sagen, es ist eben wie im Wald. Solche Vogelarten und solche Natur, wo hat man das schon, im Zentrum von Berlin?

Kassel: Man kann da einfach hin. Ich bin sehr hin- und hergerissen, ob ich das, was den echten Friedhof angeht, überhaupt erwähnen sollte. Ich war letzten Sonntag da und da war es noch wunderbar ruhig, trotz des schönen Wetters. Vielleicht wird das ab heute anders, denn ab heute läuft im Kino der Film "Im Himmel unter der Erde". Er läuft zunächst neben Berlin in München, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt am Main und München und wird dann im Laufe der Zeit auch noch in ungefähr zwölf weiteren Städten – nicht nur großen, unter anderem auch Lich in Hessen – noch zu sehen sein. Bei uns im Studio war die Produzentin und Regisseurin des Films Britta Wauer. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie da waren!

Wauer: Herzlichen Dank Ihnen!

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