Geschichten aus der Vorstadt

Rezensiert von Frank Meyer · 13.10.2005
Matthew McIntosh erzählt in knapp 20 Kapiteln Geschichten aus Federal Way, einem Vorort von Seattle, der die typische Vorstadttristesse bietet. Seine Figuren sind allesamt gebrochen und werden sich erst im Schmerz ihrer selbst bewusst. Dennoch liest man diesen düsteren und harten Debütroman voller Neugier und Anteilnahme.
Sie leiden: Brent und Dan und Charly und Angela und Anna und Jim, wie die vielen Helden dieses Buches auch heißen, sie alle leiden. Sie sind krank, sie sind fett, sie saufen und koksen, sie hassen ihre keifenden Ehefrauen, ihre prügelnden Männer oder ihre öden Jobs. Und sie leiden an dem Ort, in dem sie leben, Federal Way, Washington, ein Suburb von Seattle. Federal Way hat die typische Vorstadttristesse zu bieten, lange Ausfallstraßen mit Tankstellen, Supermärkten, Imbissen und Sex-Shops.

"Aber wir sind hier dreiundachtzigtausendzweihundertneunundfünfzig Menschen, und wir stehen nicht einmal auf der Landkarte."

Der Stoßseufzer eines der Männer aus Federal Way bringt das Lebensgefühl der Romanfiguren auf den Punkt. Sie sind außen vor, sie tauchen auf keiner Landkarte auf, weder ökonomisch, noch emotional, noch metaphysisch.

"Man braucht verdammt lang, um hinzukommen", das Buch hat wenig mit einem klassischen Roman zu tun. Matthew McIntosh erzählt in knapp 20 Kapiteln Geschichten aus Federal Way, Geschichten, die zunächst wenig miteinander zu tun haben. Immer neue Figuren tauchen auf, sie werden mit energischen und konzentrierten Strichen skizziert, mit dem Ende eines Kapitels verschwinden sie wieder.

Teenager sind darunter, Familienväter und Alte, die mit dem Tod ringen. Einen Fixpunkt gibt es in dieser Welt, die Bar "Trolley" in der Nähe des Flughafens, in der fast alle Gestalten einmal auftauchen.

Will aus dem Kapitel "Fischjunge" ist eine der eindrucksvollsten Figuren in diesem Debütroman. Will ist 18, er geht weg aus Federal Way, an ein College nach Nebraska. Er geht weg, aber er hat sein Leben schon hinter sich. Sein Vater hat die Familie im Stich gelassen, ohne sich jemals nach seinen beiden Söhnen zu erkundigen. Die Mutter ist verrückt geworden, sie trinkt sich langsam zu Tode. Will hat auf seine Art nach Liebe gesucht, er hat eine Mitschülerin verfolgt, belauert und belagert, bis ihr Vater ihn zusammengeschlagen hat. In Nebraska will er nun studieren und mehr über die Wesen lernen, die ihm am nächsten sind, Fische.

Aber das Studium wird zu einer Enttäuschung. Eines Nachts verdichtet sich Wills Lebenserfahrung zu einer Vision: er sieht sich am Straßenrand liegen, Leute kommen hinzu und nehmen ihm – sanft und vorsichtig – die Nase und die Ohren ab, sie reißen ihm Arme und Beine aus. Seine Haut verändert sich, sie überzieht sich mit einer Schleimschicht, seine Lungen schrumpfen, Kiemenspalten öffnen sich. Er liegt auf dem Trocknen, der Fischjunge, nah am Ersticken, bis von oben Regen auf ihn fällt.

Wie Will tragen alle diese vergessenen Menschen tiefe Verwundungen mit sich herum. Sie spüren ihren Schmerz und im Schmerz sich selbst, und dass ist fast schon der einzige Trost in diesem Buch. Dennoch liest man diesen düsteren und harten Debütroman voller Neugier und Anteilnahme. Aus zwei Gründen: dieser junge Autor liebt seine Figuren. Und er gibt jeder von ihnen eine ganz eigene Stimme.

Matthew McIntosh hat dieses Buch mit 26 Jahren veröffentlicht. Er wollte es im Eigenverlag publizieren, weil er fürchtete, dass jeder amerikanische Verlag bei diesem formal sehr ungewöhnlichen Roman Änderungen verlangen würde. Am Ende hat sich doch ein Verlag gemeldet, Grove Press, der McIntoshs Buch in genau der vom Autor gewünschten Form herausgebracht hat. Der Eigensinn hat sich gelohnt, in den USA ist McIntosh zu einem hochgeschätzten neuen Autor geworden.



Matthew McIntosh: Man braucht verdammt lang, um hinzukommen
Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005,
336 Seiten, 9,90 Euro