Geschichte von Pandemien

Die Spanische Grippe und die Parallelen zu Covid-19

07:55 Minuten
Zwei Krankenpflegerinnen tragen einen Patienten während der Pandemie, der spanischen Grippe, in Washington DC, USA, 1918.
Masken wurden damals in den USA - wie hier 1918 in Washington - eingesetzt, in Deutschland gar nicht oder nur sehr zögerlich, sagt Harald Salfellner. © Getty / Universal History Archive / Universal Images Group
Harald Salfellner im Gespräch mit Dieter Kassel · 01.04.2020
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Etwa 25 Millionen fielen der Spanischen Grippe, die nach dem Ersten Weltkrieg wütete, zum Opfer. Der Medizinhistoriker Harald Salfellner hat ein Buch über die damalige Pandemie geschrieben und er sieht Ähnlichkeiten zur aktuellen Coronakrise.
Dieter Kassel: Dass Schulen, Universitäten und die meisten Geschäfte schließen und dass so wenig Menschen wie möglich ihre Häuser verlassen aus Angst vor einer unsichtbaren Bedrohung, das gab es schon mal vor gut 100 Jahren. Da forderte die Spanische Grippe mindestens 25 Millionen Menschenleben, nach neuesten Schätzungen vielleicht sogar doppelt so viele. Der österreichische Medizinhistoriker Harald Salfellner hat sich ausführlich mit dieser Pandemie beschäftigt, vor zwei Jahren erschien sein Buch "Die Spanische Grippe" im Vitalis Verlag. Wir erreichen ihn jetzt in Prag, wo er als Autor und Verleger lebt und arbeitet. Guten Morgen, Herr Salfellner!
Harald Salfellner: Schönen guten Morgen!
Kassel: Die spanische Grippe hat wahrscheinlich mindestens doppelt so viele Menschenleben gekostet wie der Erste Weltkrieg, vielleicht sogar noch mehr, doch ist sie ja in unserem kollektiven Gedächtnis viel weniger präsent als dieser Krieg. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Salfellner: Das hat vermutlich mehrere Gründe. Einer davon ist, dass es praktisch keine Bilder gab – zumindest in Europa. Man konnte diese Krankheit nicht so darstellen, wie man das heute tut. Man mag das auch als einen Vorteil ansehen, aber es hatte ebene auch zur Folge, dass man sie nicht wahrgenommen hat. Der grelle Blitz der politischen Ereignisse hat sie ganz einfach überstrahlt. Und als die Grippe vorbei war, hatte man zudem ganz andere Sorgen, denken Sie an die politischen Verwerfungen.

Fakenews – damals wie heute

Kassel: Sie haben ja für Ihr Buch sehr viel recherchiert, wenn es keine – ein paar haben Sie am Ende ja doch gefunden –, aber wenn es keine Bilder gab, was für Informationen wirklich aus der Zeit, nicht von Historikern, die sich später was zusammensuchen mussten, aus der Zeit gibt es überhaupt, Zeitungsausschnitte, Augenzeugenberichte?
Salfellner: Ja, das gibt es wohl auch, Augenzeugenberichte und relativ wenige literarische Quellen. Sie zu finden, ist immer sehr wertvoll. Immer wieder taucht mal ein Bericht auf. Zeitungen sind natürlich sehr, sehr wichtig, wenngleich ihre Berichte – ich möchte fast ketzerisch sagen wie heute – keinen großen Wert darstellen, weil erst im Abstand von 100 Jahren zeigt sich, dass da ganz, ganz vieles falsch ist oder in irgendeiner Form überhaupt nicht den Tatsachen entspricht.

Aber das Entscheidende sind natürlich die Archive und die statistischen Arbeiten, die Forschungen, die unmittelbar nach 1918 unternommen wurden und die jetzt in irgendwelchen Archiven herumliegen. Darauf zu stoßen, das ist ein großer Goldfund. Pathologische Infektionsbefunde zum Beispiel. Ich habe einen ganz wertvollen, ganz wichtigen gefunden – das ist dann schon eine große Sache.

Nur vages Wissen über Spanische Grippe

Kassel: Wenn wir uns überlegen, dieser pathologische Befunde, ich frage mich, stelle mir ganz einfach die Frage eigentlich, in der Situation, Ende Erster Weltkrieg, noch keine Uno, keine Weltgesundheitsorganisation: Wann und wie ist damals überhaupt klar geworden, dass es sich um eine Pandemie handelt?
Salfellner: Das ist relativ früh klar geworden, obwohl die angegebenen Zeiten zu Ausbruch und auch zu Ende der Spanischen Grippe ganz vage sind und man heute ja ein historisches Geschichtsmärchen erzählt. Die Spanische Grippe ist zurechtgemacht für den massentauglichen Bestsellerverkauf. Man weiß an sich all diese Dinge nur sehr vage. Aber schon im Sommer 1918 wusste man, dass hier etwas ganz Großes über die Bühne geht, daran gab es keine Zweifel mehr.
Kassel: Wie hat man sich damals die Situation vorzustellen, das war ja sicherlich ganz anders als heute. Der Erste Weltkrieg ging zu Ende, die Leute waren eh arm und unterernährt, Städte waren zum Teil stark beschädigt. Aber wie hat diese Grippe das Leben dann noch einmal verändert?

Quarantäne damals nicht denkbar

Salfellner: Nun, es war zuerst einmal das Problem mit der Nahrungsmittelbeschaffung ganz, ganz groß. In Prag grüßte man sich nicht mehr mit Guten Tag oder was es da an Floskeln gibt, sondern man fragte: Hungern Sie sehr? Man fragte, ob der andere hungert. Man fror, für uns kaum vorstellbar. Wir wissen ja nicht, wie das ist, wenn man um 5 Uhr morgens an einem bitterkalten Tag aufstehen muss und das Kanonenöfchen anheizen muss.

In der Reihe "Leben in Ausnahmesituationen" führen wir in dieser Woche Gespräche über den Ausbruch des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawadie 1815, die Spanische Grippe 1918, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, den Finanzcrash von 2008, den Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull 2010 und wir blicken nach Mogadischu, wo islamistische Milizen seit Jahrzehnten die einheimische Bevölkerung terrorisieren.

Also aus heutiger Sicht ist das eine völlig andere Welt, in der man sich befand. Es gab eine enorme Mangellage, es fehlte an allem. Geschäftsschließungen wie heute oder auch das Zusperren von Fabriken kam schon aufgrund der Notlage nicht vor.
Man darf nicht vergessen, es handelte sich um soziale Lage, zu der es heute ebenfalls kein Spiegelbild mehr gibt. Dass sieben, acht, neun Menschen rund um die Uhr in einer kleinen Wohnung, in einem Zimmer lebten, war in den Vorstädten fast die Norm. Und in solchen Fällen war eine Quarantäne praktisch nicht denkbar.

Kein Begriff von der hohen Ansteckungsgefahr

Kassel: Was hat man denn überhaupt für Schutz- und Hygienemaßnahmen ergriffen? Man muss ja dazu wissen, man kannte ja das Grippevirus noch gar nicht, das wurde erst 15 Jahre später entdeckt. Wie ging man überhaupt mit den Schutzvorgaben um?
Salfellner: Zögerlich und natürlich in Europa und Amerika sehr verschieden. Die heute so symbolische Mund-Nasen-Schutzvorrichtung, die Masken, hat man vielleicht in der Schweiz oder auch den USA ganz stark eingesetzt, da gab es Verordnungen dazu. Auf dem Gebiet der alten österreichischen Monarchie und auch in Deutschland wurde das, wenn überhaupt, nur sehr zögerlich durchgeführt.
Man tat es auch nicht gerne, es war auch unangenehm und man hatte nicht wirklich einen Begriff von der hohen Infektiösität und davon, dass man sie so vielleicht unter Kontrolle kriegen könnte. Social Distancing, das Zauberwort dieser Tage, gab es natürlich auch, aber nur sehr lückenhaft, hin und wieder gab es eine große Veranstaltung, die man dann untersagt hat.

Aus der Spanischen Grippe gelernt?

Kassel: Wahrscheinlich konnten sich auch nur reiche Leute im Alltag leisten, Abstand voneinander zu halten. Wenn man diese großen Unterschiede jetzt hört: Der Vergleich zur Spanischen Grippe ist ja naheliegend. Aber würden Sie sagen, man kann aus der Pandemie damals irgendetwas lernen für unsere heutige Situation – oder sind die Unterschiede zu groß?
Salfellner: Zunächst einmal gibt es eine gespaltene Fachwelt. Die einen sagen, man darf es nicht vergleichen, die anderen sagen, man kann es vergleichen. Man darf im Grunde immer alles vergleichen. Es ist auch zu vergleichen, wenn Sie sich die Verhältnisse in Italien anschauen, das erinnert dann doch an die amerikanischen Bilder, die wir ja besitzen. Oder wenn Sie die Opferzahlen, die ja in den USA prognostiziert werden – man spricht von bis zu 200.000 Toten – dann erreicht das schon auch die Opferdimension der Spanischen Grippe. Die Zahlen waren in Amerika damals vielleicht noch mal doppelt so hoch, aber das kommt schon an diese Größenordnung heran. Dieser Vergleich ist zu machen, aber lernen kann man aus der Spanischen Grippe aufgrund der sehr unterschiedlichen Voraussetzungen natürlich wenig.
Aber eines hätte man lernen müssen, dass Pandemien auch in einem sehr großen Umfang möglich sind und vor allem auch eintreten werden. Das kann man zumindest heute wieder nach Covid lernen, denn die nächste Grippepandemie kann schon im nächsten Jahr oder im übernächsten Jahr kommen – und sie könnte drastisch opferreicher verlaufen als diese Covid. Man darf sich nicht im Pessimismus verlieren, aber das sind Fakten, die man seit 1918 weiß und die letztendlich auch ein politisches Handeln erfordern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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