Geschichte

Mythenbildung auf der Leinwand

Als Heilige dargestellt: Julia Jentsch als Sophie Scholl im Film "Sophie Scholl - Die letzten Tage"
Als Heilige dargestellt: Julia Jentsch als Sophie Scholl im Film "Sophie Scholl - Die letzten Tage" © picture alliance / dpa
Von Hartwig Tegeler · 19.07.2014
Pathos, Überhöhung, plakative und halbe Geschichten: Immer wieder hat das Kino den Widerstand gegen die Nationalsozialisten in Szene gesetzt – und dabei selten eine angemessene Filmsprache gefunden.
Wie sollte es möglich sein, sich vor Widerstandskämpfern im Film nicht zu verbeugen: Sophie Scholl von der "Weißen Rose" oder Stauffenberg vom "20. Juli".
Wahrscheinlich ist jeder Satz in Bryan Singers Film "Operation Walküre" mit Tom Cruise als Stauffenberg historisch belegbar. Und Marc Rothemund konnte 2005 für seinen Film "Sophie Scholl – Die letzten Tage" auf die Original-Verhörprotokolle der Gestapo zurückgreifen, die in den Archiven der Stasi gefunden wurden.
Das Verhör zwischen der dem Tode geweihten Studentin Sophie Scholl und dem Gestapo-Beamten Robert Mohr ist historisch authentisch. Ein intensiver, ein spannender (Kino)-Kampf um Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge, um Leben und Tod.
Vom gewöhnlichen Menschen zur Ikone
Aber spätestens, wenn Julia Jentsch/Sophie Scholl den Verhörraum verlässt, kippt der Film. Denn je näher diese junge Frau ihrem Tod unter dem Fallbeil kommt, umso weiter verlieren wir den Menschen aus dem Auge.
Diese Sophie Scholl hat nichts mehr von – eben – einem Menschen. Sie wirkt entrückt. Sie ist zur Ikone geworden. Der des Widerstands. Und wenn der Gefängnispfarrer die zum Tode Verurteilte am Ende segnet, dann ist dies – in der Logik des Kinobildes und in der Logik seiner Wirkung – eine Heiligsprechung.
Dass diese Sophie Scholl nicht mehr von dieser Welt ist, zeigt sich zuletzt in der Reinheit des Dekors der Hinrichtungsstätte. Ein quasi heiliger Raum, der dort inszeniert wird, der nichts hat von Angst, von Schweiß, von Blut, von Pisse, von Scheiße, kurzum: der nichts hat von dem, was wir sehen müssten, wenn ein Henker einen Menschen unterm Fallbeil oder am Fleischerhaken zu Tode bringt.
Darstellung im Kino zu plakativ
Literatur kann – wie die Hinrichtungsszene der "Roten Kapelle" in Plötzensee im dritten Band der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss beweist –, Literatur kann so etwas in aller Wucht präsentieren. Kino fast nie – dafür ist die Realitätsabbildung in diesem Medium zu plakativ.
Sophie Scholl wird bei Marc Rothemund zu einer quasi-religiösen Heldin. Und Claus von Stauffenberg fährt bei Bryan Singer in "Operation Walküre" unter den Kugeln des Hinrichtungskommandos inklusive seiner letzten Worte, "Es lebe das heilige Deutschland", direkt in den Heldenhimmel – den des Kinos natürlich. Abspann. Alles gut nach dem Tod!
Die ganze Geschichte wird nicht erzählt
Die Folgeerzählung bleibt uns erspart, die vom Schicksal der Angehörigen und der Überlebenden danach. Sippenhaft, Ausgrenzung – und zwar nicht nur in den verbleibenden Monaten der Nazizeit, auch im Nachkriegsdeutschland. Willy Brand, andere Remigranten, die Kinder der Ermordeten der "Roten Kapelle" oder des "20. Juli": Sie gelten als Verräter und sind geschmähte Außenseiter.
Und auch, wenn das Pendel heute in die entgegengesetzte Richtung geschlagen ist und alles, was Widerstand war, goutiert wird, so hat das Erzählkino nicht das Zeug zur komplexen, kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Eine Lüge, die aus vielen kleinen Wahrheiten zusammengesetzt ist
Georg Seeslen, der Filmpublizist, hat in seiner Analyse von Oliver Hirschbiegels "Der Untergang" von einer "Lüge" gesprochen, "die aus lauter kleinen Wahrheiten zusammengesetzt sei". Das kann auch für viele der Geschichten über die Nazi-Widerständler im Kino gelten.
Es ist unmöglich, von einem Menschen wie Sophie Scholl, den anderen Mitgliedern der "Weißen Rose", denen der "Roten Kapelle", des „20. Juli" und den namenlosen Menschen im Widerstand gegen Hitler – es ist unmöglich, von ihnen nicht beeindruckt zu sein. Aber Misstrauen ist angezeigt, wenn unter dem Deckmantel historischer Authentizität Mythenbildung betrieben wird.

Hartwig Tegeler, geboren 1956 in Nordenham-Hoffe an der Unterweser, begann nach einem Studium der Germanistik und Politologie in Hamburg seine journalistische Arbeit bei einem Privatsender und arbeitet seit 1990 als freier Hörfunk-Autor und -Regisseur in der ARD, schreibt Filmkritiken, Features und Reportagen.

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