Geschichte mit Moral

12.11.2011
"Unsere Geschichte hat eine Moral", sagt der Astrologe am Ende seines kurzen Prologs, bevor sich der Vorhang zur Oper "Der goldene Hahn" von Nikolai Rimskij-Korsakow hebt. Ist das Stück denn mehr als ein altes russisches Märchen von einem alten stumpfsinnigen König und einem cleveren Hahn? Hat es wirklich historische oder sogar aktuell politische Bezüge?
Natürlich bietet so ein Beispiel völliger Regierungsinkompetenz beste Voraussetzungen für eine Gesellschaftssatire. Das war ja auch der Grund für den Komponisten, nach langer Zeit doch noch eine letzte Oper zu schreiben. Ärger bei der Zensur musste er mit einkalkulieren, denn es war nicht das erste Mal, dass dieses Thema Anstoß erweckte. Bereits ein Dreivierteljahrhundert früher hatte Alexander Puschkin, auf dessen Geschichte das Libretto von Wladimir Iwanowitsch Belski basiert, damit die Gunst des Zaren Nikolaus I. aufs Spiel gesetzt. Die Versuche seinerzeit, Zentralasien und den Kaukasus zu kontrollieren, endeten oft mit verheerenden Niederlagen gegen islamische Rebellen und lokale, kleine Herrscher. Und da war der Bezug des Puschkinschen Stückes zum aktuellen Geschehen zu offensichtlich. Ähnlich im September 1907, als Rimskij-Korsakow seine Oper zum Abschluss brachte: Russland hatte gerade den Krieg gegen Japan verloren. Also wurde die Inszenierung verboten. Erst 1909, ein Jahr nach dem Tode des Komponisten, kam es im provinziellen Moskau zur Aufführung, bald darauf in der Hauptstadt St. Petersburg.

Die Neuproduktion ist die sechste auf der Bühne des Bolschoi Theaters. Sein Direktor Kirill Serebrennikow will zeigen, was passiert, wenn ein mächtiger Mann einem Wunder begegnet. Er sieht in dem Märchen eher die menschliche als die sozial-politische Komponente. Vassily Sinaisky, der Chefdirigent, hebt die musikalischen Aspekte hervor: "Für mich ist es vor allem ein Werk, das einen sehr starken Einfluss auf die jüngeren Komponisten gehabt hat. Prokofjew, Schostakowitsch, Strawinsky studierten zu der Zeit am Petersburger Konservatorium. Ich versuche herauszuarbeiten, was sie alle am Goldenen Hahn geliebt haben. Mit dieser Oper ist Rimskij-Korsakow in ganz andere Sphären vorgedrungen. Seine musikalische Sprache ist moderner geworden durch Modifizierung der Leitmotivtechnik, des harmonischen Gefüges mit Flächen freier Tonalität."


Euroradio-Opernsaison 2011/12
Bolschoi Theater Moskau
Aufzeichnung vom 19.06.11


Nikolaj Rimskij-Korsakow
"Der goldene Hahn"
Oper in einem Prolog, drei Akten und einem Epilog
Libretto: Wladimir Iwanowitsch Belski

Zar Dodon - Wladimir Matorin, Bass
Zarewitsch Gwidon - Boris Rudak, Tenor
Zarewitsch Afron - Michail Dijakow, Bariton
Polkan - Nikolaj Kasanskij, Bass
Amelfa - Tatjana Jerastowa, Alt
Astrologe - Jeff Martin, Tenor
Königin von Schemacha - Venera Gimadjewa, Sopran
Der goldene Hahn - Anna Chwostenko, Sopran
Chor und Orchester des Bolschoi Theaters Moskau
Leitung: Vassily Sinaisky


nach dem 1. Akt ca. 20:00 Uhr Nachrichten