Geschichte eines jungen Mannes

13.01.2010
Nach dem Tod seines Bruders muss Joseph, ein Mann von Mitte dreißig, neu über sein Leben nachdenken. Er scheint dabei auf seltsame Weise aus dem Leben herausgefallen.
Der Magdalenaberg ist ein Hügel oberhalb des Dorfes, aus dem Joseph, der Ich-Erzähler des nach diesem Bergrücken benannten Romans, stammt. Hierher zieht sich Joseph immer wieder zurück, sitzt auf der Friedhofsmauer und schaut auf die Ebene vor den verschwimmenden Hügelketten, als wäre sie seine Zukunft. Er ist ein Mann von Mitte dreißig, der auf seltsame Weise aus dem Leben herausgefallen scheint.

Mittlerweile hat sich Joseph in Hallstatt niedergelassen, einem Ort auf einer schmalen Landzunge zwischen See und Berg, berühmt durch ein Knochenhaus, in dem viele bemalte Totenschädel zu einer Art "Memento mori" versammelt sind. Hierher kommt Joseph, um zu schreiben. Doch die Arbeit über die Geschichte des Musikinstrumentenbaus wird niemals fertig, er beginnt mit ihr noch nicht einmal richtig.

Die Erbschaft eines Onkels, die ihm überraschend zugefallen ist, ermöglicht ein solch sorgloses Außenseiterleben. Das klingt unverkennbar nach Thomas Bernhard, allerdings kommt Kaiser-Mühlecker in seiner Geschichte eines Scheiterns ohne dessen pointierte Boshaftigkeiten, ohne jeden Beschimpfungsfuror aus.

Er hält es vielmehr mit Peter Handke. Sanft und behutsam erzählt er von der bäuerlichen Herkunft, von dem Hof, der verwaist, weil weder Joseph noch sein Bruder ihn übernehmen wollten, von den Eltern, die zunehmend verstummen, weil ihr Tun ohne Erben sinnlos erscheint, von den Jugendfreunden, deren Lebensläufe längst im Stillstand angekommen sind, und von Katharina, die Joseph eine Weile liebt. Ausgelöst wird dieser Strom der Erinnerungen durch den Unfalltod des Bruders, der Joseph zu Lebzeiten fremd geblieben ist.

Es passiert nicht viel in diesem Roman, der in kreisenden, kalkuliert rhythmisierten Erzählbewegungen dem Fließen der Erinnerung Gestalt gibt. Die kleinen Dinge sind es, auf die Kaiser-Mühlecker seinen Blick richtet: ein langsam fallender Wassertropfen, der graue Putz einer Mauer, das stumme Dahindämmern im Wirtshaus oder die immer wiederkehrenden Verrichtungen der Eltern im Stall. Wenig spektakulär, dafür umso eindringlicher in seiner geradezu mikroskopischen Genauigkeit zeichnet er die Geschichten der Verluste nach, die den Roman über eine Kindheit auf dem Lande von Anfang an bestimmen.

Manches deutet darauf hin, dass die Welt der Hauptfiguren der des Autors eng verwandt ist. In unmittelbarer Nähe des Magdalenabergs ist der 1982 geborene Reinhard Kaiser-Mühlecker aufgewachsen. Voller Empathie, zugleich nüchtern, illusionslos und fernab jeder Idyllisierung erkundet er bis ins Detail das Leben auf dem Dorf.

Dies gelingt ihm mit einer ganz eigenen Kunstsprache, die von dialektalen Einsprengseln ebenso imprägniert ist wie von zeitgenössischen umgangssprachlichen Wendungen mit ihren aus der Psychologie und Soziologie entlehnten Versatzstücken. Während man dem Autor in seinem ersten, linear erzählten Buch ("Der lange Gang über die Stationen", 2008) noch einen altertümelnden, an Adalbert Stifter geschulten Stil vorwarf, so befreit er sich hier in einer komplex angelegten Romankonstruktion von seinem Vorbild.

Mit diesem neuen, von Manierismen freien, natürlich klingenden Tonfall ist Kaiser-Mühlecker in der Gegenwart angekommen.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Magdalenaberg
Hoffmann & Campe, Hamburg 2009, 192 Seiten, 20 Euro