Geschichte einer zerstörerischen Lüge

Eine Frau weiß, dass der nächste Tag eine Zäsur in ihrem Leben markieren wird. Deshalb findet sie keinen Schlaf und erzählt ihre fesselnde Geschichte, die gleichzeitig die ihrer Familie ist.
Eine Sommernacht wird durchwacht. Es ist die Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1995. Kein welthistorisch bedeutsames Datum, und doch in gewisser Weise die Nacht vor der Schlacht. Eine Frau weiß, dass der morgige Tag eine Zäsur in ihrem Leben markieren wird. Deshalb findet sie keinen Schlaf und erzählt ihre Geschichte, die gleichzeitig die ihrer Familie ist: "Was für eine verrückte Sache Familien doch sind. Wie verrückt, dass wir alle irgendwo auf dem Ast eines Stammbaums hocken."

Ein einziger langer Monolog ist Graham Swifts gelungener neuer Roman "Im Labyrinth der Nacht". Auf Englisch heißt er "Tomorrow" - aus gutem Grund, denn der bevorstehende Tag, der hier dämmert, wird in der Familie Hook alles verändern. Es wird der Tag sein, an dem Gericht gehalten wird. Zumindest befürchtet das Paula, 49, die nachts hellwach im Bett liegt und weiß, dass ihr Mann Mike, 50, morgen ihren Kindern Kate und Nick etwas Verstörendes offenbaren wird. Eine Mutter spricht hier zu ihren beiden 16-jährigen Zwillingen, ohne dass die sie hören könnten. Sie probt die Rede, die ihr Mann, ein Biologe, morgen Nick und Kate halten wird: "Ich muss euch jetzt ein paar schwierige und delikate Dinge erklären. Ich muss euch mit meinen eigenen Worten erklären, was euch euer Vater morgen mit den Seinen erklären wird. Morgen werdet ihr ein neues Leben beginnen … Ihr werdet euch fragen, was zum Teufel hier vor sich geht."

Warum hier von "Schuld", vom Ende der "Schonzeit" sowie dem bevorstehenden "Augenblick der Urteilsverkündung" die Rede ist? Weshalb Paula meint, dass Nick und Kate die Welt morgen mit anderen Augen sehen werden? Swift lässt den Leser rätseln, nach nicht allzu vielen Seiten schon richtig vermuten und lüftet das Geheimnis endgültig bereits nach zwei Dritteln seines 318-seitigen Romans. Und dennoch, das ist das Erstaunliche, stellt einen dieser so geschickt vorgehende Autor bei der Lektüre keineswegs auf eine Geduldsprobe.

Man liest sie gebannt bis zum Schluss, diese fesselnde Verteidigungsrede einer seit 25 Jahren glücklich verheirateten, aber nun verzweifelt um die Zukunft ihrer Familie bangenden Kunsthändlerin, deren Ehe so lange kinderlos blieb. Weit zurückliegende Erinnerungen werden hier aufgefächert, die Vergangenheit wird beschworen und es fällt der Satz: "Es gibt Momente in unserem Leben, auf die wir, auch wenn wir es zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen, später zurückblicken und uns dann als jemand sehen, dessen Leben in der Schwebe ist, sich an einem geheimnisvollen Angelpunkt befindet."

Der 61-jährige Graham Swift hat die melancholisch durchwirkte Geschichte einer zerstörerischen Lüge geschrieben – eine Geschichte, in der - alles andere als zufällig - John Donnes Gedicht "The Good Morrow” zitiert wird: "Und jetzt Guten Morgen zu unseren erwachten Seelen …"

Besprochen von Knut Cordsen

Graham Swift: Im Labyrinth der Nacht
Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk
dtv premium, München 2011
14,90 Euro, 318 Seiten