Geschichte einer Umerziehung

15.07.2008
Von der seelischen Vernichtung einer Frau erzählt Teresa de la Parra in ihrem Roman "Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt". Dabei nimmt die venezolanische Autorin gekonnt den Machismo der lateinamerikanischen Gesellschaft aufs Korn. Bei seinem erstmaligen Erscheinen im Jahr 1924 verursachte das Werk einen Skandal.
Man kann Teresa de la Parra, 1889 als Tochter des venezolanischen Konsuls von Berlin in Paris geboren und 1936 gestorben, durchaus als Rebellin bezeichnen: Sie pfiff auf eine standesgemäße Ehe, tingelte zwischen den Kontinenten hin und her, setzte sich für die Rechte der Frauen ein und provozierte 1924 mit ihrem Debüt einen veritablen Literaturskandal.

Zwischen Europa und Caracas aufgewachsen und durch ihre gesellschaftliche Position privilegiert, konnte sich de la Parra die Unabhängigkeit von den gängigen Rollenmustern aber auch leisten. Auf literarischer Ebene machte sie die Zwänge zum Thema. "Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt" heißt ihr erstes und wichtigstes Buch, das zum Teil autobiografisch inspiriert ist und zu einem Grundstein der venezolanischen Literatur wurde.

Erzählt wird die Geschichte einer Umerziehung: Die junge, lebenslustige María Eugenia wird nach ihrem Abschluss auf einer Klosterschule und einer kurzen Periode der Freiheit in Paris zurück nach Venezuela verfrachtet, wo sie Quartier bei ihrer Großmutter nimmt und in die Gesellschaft eingeführt werden soll. Wieder zu Hause angekommen, muss María Eugenia feststellen, dass sie mittellos ist. Ihr zwielichtiger Onkel Edoardo hat das Erbe ihres Vaters durchgebracht, und es scheint ihr nur noch der Ausweg in die Ehe zu bleiben.

Ein anderer Onkel namens Pancho, der auf sympathische Weise unangepasst ist und zu einer gewissen Liederlichkeit neigt, ist ihre einzige Stütze. Er ermutigt sie, sich wenigstens einen Verlobten ihrer Wahl zu suchen, und macht sie mit der betörend mondänen Mercedes Galinda bekannt, die für María Eugenia zu einer mütterlichen Freundin wird.

In Mercedes Galindas Salon trifft María Eugenia auf den Medizinstudenten Gabriel, in den sie sich prompt verliebt. Aber die traditionsbewusste Großmutter, der diese Partie zu armselig wäre, weiß die Annäherung zu unterbinden und verschickt María Eugenia aufs Land. Nach und nach wird ihr Widerstand gebrochen, bis sie schließlich in die Ehe mit dem Wunschkandidaten der Großmutter einwilligt.

Der Prozess der Domestizierung spiegelt sich auch auf formaler Ebene. War der erste Teil des Romans ein vor Lebhaftigkeit berstender Brief an die beste Freundin aus Klosterschulzeiten gewesen, handelt es sich beim zweiten, dritten und vierten Teil um Tagebücher der jungen Frau, die sich immer stärker in sich selbst zurück zieht, bis sie schließlich keinen autonomen Willen mehr besitzt und sich in ein mystisches Sprechen hineinsteigert. Die Anpassung an das Rollenmodell bringt eine innere Vernichtung mit sich.

So ungescheut die seelischen Zustände einer jungen Frau zu benennen, den lateinamerikanischen Machismo aufs Korn zu nehmen, hinterrücks die Lebensentwürfe der postkolonialen Gesellschaft in Frage zu stellen und auch noch satirisch zu verzerren - was für eine ungeheure Provokation, noch dazu aus der Feder einer wohlerzogenen Dame!

Die Wirkung von "Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt" ist heute unvorstellbar. Ab 1922 erschien der Roman in Fortsetzungen in der Zeitschrift "Lectura Semanal", deren Gesamtauflage von sechstausend Stück innerhalb weniger Stunden vergriffen war. Die Veröffentlichung des Romans 1924 rief ebenso wie die Publikation der überarbeiteten Neuauflage 1928 tumultartige Zustände hervor, es hagelte Proteste wegen des schädlichen Einflusses auf junge Gemüter, Teresa de la Parra wurde als "señorita frivola" gebrandmarkt, man forderte gar das Verbot des Buches und vor allem Männer warnten lauthals vor der Lektüre.

Doch schon damals erkannten namhafte Literaturkritiker, dass es sich um einen der schönsten und wichtigsten Romane Venezuelas handelte. Auch in Frankreich und Spanien feierte das "Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt" große Erfolge. Teresa de la Parra nahm ihre Berühmtheit gelassen hin. Die politisch mitunter reichlich naive Autorin - sie ließ sich von dem venezolanischen Diktator Juan Vicente Goméz vereinnahmen - wurde zu einer Figur der Öffentlichkeit: Die unterhaltsame "Revue de l’Amérique Latine", die in Paris erschien, brachte Fotostrecken mit ihr, und als sie 1930 in Kolumbien zu Vorträgen über Frauenfragen eintraf, umlagerten Tausende den Bahnhof von Bogotà, um einen Blick auf sie zu erhaschen.

Aber das "Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt" ist jenseits der kuriosen Wirkungsgeschichte von großem Interesse. Es handelt sich um einen spannungsreichen Gesellschaftsroman, der über das scharf gezeichnete Personal die großen Umbrüche in Lateinamerika inszeniert und eine spitzfindige Variation des Iphigenie-Motivs liefert. María Eugenia ist eine der großen Heldinnen der Weltliteratur.

Rezensiert von Maike Albath

Teresa de la Parra:, Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt
Aus dem Spanischen von Petra Strien-Bourmer.
Roman, Manesse Verlag Zürich 2008
767 Seiten, 24, 90 Euro