Geschichte einer gestohlenen Kindheit

08.06.2011
Ein alarmierendes Dokument aus der naiven Perspektive eines Kindes: In ihrem beklemmenden, autobiografischen Roman "Tiger, Tiger" beschreibt die US-Autorin Margaux Fragoso, wie sie 15 Jahre lang sexuell missbraucht wurde.
Margaux Fragoso ist sieben Jahre alt, als sie Peter Curran in einem Schwimmbad in Union City, einer Kleinstadt in New Jersey trifft. Sie ist ein vernachlässigtes Einzelkind, das in prekären Verhältnissen aufwächst – die Mutter ist psychisch schwer gestört, der Vater ein gewalttätiger Säufer –, und in dem 51-jährigen Mann findet sie alles, was sie vermisst: Fantasie, Zärtlichkeit, Fürsorge, Geborgenheit. So wird Peter ihr Freund, Vaterersatz, Liebhaber. Es beginnt scheinbar ganz normal. Die beiden tollen in seinem verwilderten Garten herum, gehen im Haus über Tische und Bänke, dann tauschen sie "Fischküsse" aus, bei denen ein Kaugummi von Mund zu Mund wandert, besonders gern hat sie das Tiger-Spiel, da ist sie nackt, "wie echte Dschungeltiere".

Margaux Fragoso ist heute Anfang Dreißig. Sie lebt in New Orleans und hat eine Tochter. In ihrem beklemmenden Buch "Tiger, Tiger" beschreibt sie, wie sie 15 Jahre lang sexuell missbraucht wurde. Jahrelang verbringt sie als Kind, zumeist mit ihrer Mutter, die Nachmittage bei Peter. Wenn er im Keller, wohin er sie immer wieder lockt, nicht bekommt, was er will, reagiert er mit Liebesentzug. Aus Angst, ihren einzigen Vertrauten zu verlieren, unterwirft Margaux sich seinen Wünschen. Anderen fällt zwar immer wieder auf, dass mit den beiden etwas nicht stimmen kann, aber Peter versteht es geschickt, auch dank ihrer Mithilfe, jeden Verdacht zu zerstreuen.

"Tiger, Tiger" ist aus der naiven Perspektive des Kindes geschrieben, das behauptet, damals glücklich gewesen zu sein. Keine Wut, keine Rachegefühle sind spürbar, auch keine kommentierende Reflexion. Das macht das Buch schwer erträglich und hat eine Reihe von Kritikern auf den Plan gerufen. Gewiss wäre es einfacher, Kinderschänder als die Schurken darzustellen, die sie sind. Aber die Gefahr, die von ihnen ausgeht, liegt nicht in der physischen Gewalt, sondern in dem, was sie ihren Opfern geben: Nähe und Liebe. Diese tragische Verstrickung, die durchaus exemplarische Züge trägt, kenntlich zu machen, ist das große Verdienst des Buches.

Abgesehen davon, dass sich die Autorin damit die Geschichte ihrer gestohlenen Kindheit von der Seele schreibt, ist ihr Erinnerungsbuch ein alarmierendes Dokument. Denn es klärt auf eindrucksvolle Weise darüber auf, wie das widerwärtigste aller Verbrechen sich stets von Neuem öffentlich, doch unerkannt vollziehen kann. Schweigen und Verdrängen sind das Verhaltensmuster, zu dem Pädophile, die "Meister der Täuschung", ihre Opfern verdammen. Margaux Fragoso hat es gebrochen. Mit einem Buch, das zu lesen eine einzige - wichtige - Zumutung ist.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Margaux Fragoso: Tiger, Tiger
Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Fischer
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2011
464 Seiten, 24,90 Euro