Geschichte des Wartesaals

Lange Weile

28:45 Minuten
Auswanderer in Ballinstadt in Hamburg warten an einem Schalter.
Auswandern - das hieß, wie hier in Hamburg, zunächst einmal Warten. © picture alliance/dpa/imageBROKER/White Star/Monica Gumm
Von Ulrich Land · 16.09.2020
Audio herunterladen
Wer mit der Bahn oder dem Schiff fährt, der muss auch das Warten in Kauf nehmen. Aber während vor 100 Jahren noch riesige Wartesäle im Stile von Tempeln den Reisenden Zeit zur Einkehr boten, darf er heute nur zwischen Lounges oder Shoppingmalls wählen.
"Weshalb kriege ich bloß den Blick nicht von dieser Uhr los? Pures Funktionieren. 60 schmucklose Striche im schlichten Rund. Zeiger, an Gradlinigkeit nicht zu übertreffen. Zeiger, die weitergehn, weiter und vorwärts und auch nicht wissen, warum sie immer im Kreis laufen statt gradeaus, vorwärts, raus in den Kosmos", heißt es bei Wartke.
"Zum Reisen gehört das Warten auf jeden Fall dazu", sagt Daniel Gaschick vom Fahrgastverband "Pro Bahn" im Südwesten der Republik.
"Dennoch, wenn wir auf die Beschwerden gucken, die an uns herangetragen werden als Fahrgastverband, dann ist das Warten in der Regel als Ärgernis Thema und diese Ansprüche steigen."
Das hohe Gut der digitalen Echtzeit-Gesellschaft, die Planungssicherheit, ist über den Haufen geschmissen. Von der jämmerlich langsam vorwärtsschleichenden Bahnhofsuhr. Dieser Krücke jener längst vergangenen Zeiten, als das Warten noch geholfen hat, als die Bahnhofsuhr das Signum des Fortschreitens der neuen Zeit war. Und ihr Taktgeber.

Erstmals wurde durch den Eisenbahnverkehr die Zeit eine einheitliche, über die Landesgrenzen hinweg festgelegte und abgestimmte Größe. Die Bahnhofsuhr tickte den neuen Zeitgeist der Pünktlichkeit in die Köpfe der Zeitgenossen. Und erzog sie zu einer ordentlichen, widerstandslosen Wartedisziplin.
Stillgelegte Zeit in festgelegtem Maß.
"Bin hängen geblieben. Anschlusszug auf und davon. Also gut. Also gut, dann eben eine Warteschleife im Wartesaal. Eine Stunde. – Plötzlich Zeit. Einfach Zeit, eine Stunde, von der ich nichts will, von der ich nichts weiß, nichts wusste. Wohin damit? Zeit, die sich dehnt, sich zieht. Was tun? Nichts tun. Treiben, treiben lassen wie 'n Kieselstein. Einfach die Stunde lassen, wie sie ist: ungefüllt. Gibt keinen Raum, in dem man derart langsam älter wird wie im Wartesaal", so wieder Wartke.

Ein Taj Mahal des Wartens

Vor 120 Jahren baute man dem Warten noch Schlösser. Mitten in der gigantischen Bahnsteighalle des Kölner Hauptbahnhofs etwa. Die mittleren Gleise stoppten vor einem orientalisch anmutenden Palast: bunt gekachelt, mit Stuckschmuck, Türmchen und Erkern ausstaffiert, bekrönt von zahllosen Kuppeln, eröffnet von opulenten Portalen, verziert mit glasierten Terrakotten und farbigen Glasrosetten.
Oben unter der Dachzone die Wappen all jener Städte, die man Anfang der 1890er-Jahre von Köln aus erreichen konnte.
Ein Taj Mahal des Wartens in der Tag für Tag, Zug um Zug rußiger werdenden Bahnsteighalle.
Und unter den großen Oberlichtern aus Kathedralglas mit mattierten Verzierungen, unter den Agraffen und Fruchtgehängen in Stuck: ein nicht weniger erlesenes Salonmobiliar. Wilhelminisch abgestuft in vier Klassen von Holzbänken bis zu Sitzgruppen mit Lederpolstern.
"Sitzen. Und warten. Gedanken kreuzen auf, zersplittern, zerstäuben. Denken nach. Denken worüber nach? Woran? Keine Ahnung, jetzt an das, gleich an das. Ich kriege keinen Gedanken zu fassen. Die Augen unscharf gestellt, stumpfe Blicke stieren ins Nichts. In der Leere der Zeit fängt die Seele an zu quasseln. Die Hälfte seines Lebens wartet der Mensch vergebens – nee, überhaupt nicht. Im Wartesaal wird durchaus nicht nur gewartet. Was weiß ich, wer hier alles Wolkenkuckucksheime errichtet, ausmalt, einreißt. Was für Ideen hier rumspinnen, was für Utopien, Lebensentwürfe Gestalt gewinnen. Welcher große Wurf verworfen wird", heißt es bei Wartke.
Die Wartenden verzehren matschiges Fast Food aus Plastikschalen und schlürfen Cola aus nachlässig gedeckelten Pappbechern mit martialisch hervorstechenden Strohhalmen. Sie studieren mindestens zum dritten Mal die vier Zeilen, die die automatische Fahrplanauskunft ausgeworfen hat.

Auswandererhallen 1919 in Hamburg, wo sich heute das Museum "Ballinstadt" befindet.   
Auswandererhallen 1919 in Hamburg, wo sich heute das Museum „BallinStadt“ befindet.© picture alliance/dpa/Johann Hamann/Landesbildarchiv Hamburg
Zwischen 1850 und 1934 treten 5,8 Millionen Menschen von Hamburg aus den Weg in die Neue Welt an, großenteils Osteuropäer.
"1892 brach die Cholera aus, der Hamburger Senat schrieb das den vornehmlich russischen Auswanderwilligen zu", sagt Volker Reimers, Geschäftsführer des "Auswanderermuseums BallinStadt Hamburg".
"Der Hamburger Senat wollte – Zitat: 'das Gesocks' nicht mehr in der Stadt haben. Und er hat also quasi die Auswanderung der Osteuropäer über Hamburg verboten."

Eine abgeschirmte Welt im Wartezustand

Die einzige Möglichkeit für die Hamburger Reedereien, trotzdem von diesen Fluchtbewegungen zu profitieren, bestand darin, eine Art Wartequartier bereitzustellen. Und so ließ Albert Ballin, der damalige Generaldirektor der Hapag-Reederei, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die so genannten "Auswandererhallen" errichten.
"Hier hatte man eben einen Hort, wo man dann auch sicher untergebracht war."
Im Gegensatz zu deutschen Auswanderern, die in der Stadt selbst Quartier beziehen durften, bis ihr Schiff ablegte, musste für die osteuropäischen Passagiere eine Zwischenstation her. Eine abgeschirmte Welt im Wartezustand.
"Weil es natürlich viele Schlepper gab. Und Leute wurden beraubt. Die allein reisenden Damen hatten es besonders schwer. Dass sie dann in die Bordelle verschleppt wurden, beispielsweise."
Bis zu 5000 Auswanderwillige konnten in den Hamburger Auswandererhallen untergebracht werden, um dann im Schnitt drei bis fünf Tage zu warten, bevor die Schiffsreise losging. Manchmal auch deutlich länger, wenn das Schiff aus seefahrtstechnischen Gründen nicht pünktlich ablegen konnte. Und wer in den Auswandererhallen krank ankam oder krank wurde, musste so lange warten, bis er wieder gesund war.


Die Anlage auf der Hamburger Elbe-Insel Veddel bestand aus 30 Gebäuden auf einem 16 Hektar großen Gelände mit weitläufigem Wegenetz. Umzäunt und abgeschirmt. Eine Stadt in der Stadt.
Speisesäle, Küchen und Werkstätten, Kinderspielplätze, Wohn-Schlafgebäude mit extra ausgewiesenen Wartebereichen, eine evangelische, eine katholische Kirche, eine Synagoge Einkaufsläden, Friseure, Ärzte, Lazarett und Quarantänestation.
Vorgeschaltet der "unreine Bereich", wo das Warten mit deutscher Gründlichkeit strukturiert und perfekt durchorganisiert war:
"Ein großes Empfangsgebäude, da musste man sich in eine Schlange stellen und auf die Registrierung warten. Nach der Registrierung da wurden die Bekleidungsstücke gewaschen, man musste sich desinfizieren lassen und selbst baden, man stand also an und wartete permanent auf diese einzelnen Abläufe, und dann durfte man in den reinen Bereich."
Wo einen sodann der Warteluxus erwartete!
"Hier hatte jeder sein eigenes Bett mit sauberer Bettwäsche, und es gab so was Besonderes wie Wasserklosetts."
Und – historisch verbrieft – ausgezeichnetes Essen, für die vielen jüdischen Auswanderer auch koschere Speisen. Wobei: Auch die gute Ernährung hatte einen profan pekuniären Hintergrund. Denn nur gesunde Einwanderer ließ man in den USA einreisen.

Wartehallen als preiswertere Lösung

Und die Reedereien mussten für die Rückreisekosten aufkommen, wenn Emigranten auf der andern Seite des Teichs abgewiesen wurden. Etwa wegen mangelhafter körperlicher Konstitution. Also ließ man ihnen während des Wartens Gutes angedeihen – die preiswertere Lösung.
Eine Zwischendecksüberfahrt, also die niedrigste Kategorie, kostete ungefähr 150 Mark, umgerechnet etwa 700 Euro.
Für einen Arbeiter oder Bauernknecht ein Vermögen. Da fielen selbst die drei Mark, die er in den Hamburger Auswandererhallen fürs Essen zu berappen hatte, gehörig ins Gewicht. Das Warten kostete seinen Preis.
"Man durfte also nicht während der Tageszeit auf seinem Bett bleiben, es gab in den Häusern bestimmte Wartebereiche. Da gab es auch einen Wärter. Dass die Leute sich ruhig verhielten und dann auf den Bänken dort saßen und den Tag abwarteten. Man durfte die Anlage allerdings nicht verlassen, wenn man nicht Deutscher war."
Irgendwann aber hatte das Warten tatsächlich ein Ende.
"Wenn es dann zum Schiff ging, spielte die Kapelle zum Abschied! Und die Menschen wurden in einem großen Pulk zum Hafen gebracht, wo dann die großen Schiffe abfuhren."
Um die Menschen erneut das Warten zu lehren. Sieben Tage bis in die Neue Welt. Wo dann die Warteschlange bei der Einreiseregistrierung auf sie wartete.
Die Auswanderung im großen Stil wurde ab 1934 durch die Nazis ausgehebelt. Die Auswandererhallen dienten als Arbeitslager unter der Obhut des KZ Neuengamme. Nach 1945 dann als Unterkünfte für Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die hier zum Teil bis Anfang der 1960er-Jahre ausharrten und auf eine Wohnung warteten.
"Auch heute warten viele Menschen auf Ausreise: Kommen sie weiter, dürfen sie einreisen? Die letzte Hoffnung!"

Auswirkungen des beschleunigten Verkehrs

Sie warten. Weiterreisen zu dürfen. Bleiben zu dürfen. Zurückzumüssen. Europa 2015, 2016: ein großer Wartesaal.
"Da breitet tatsächlich einer eine Landkarte aus. In aller Ruhe, in aller Umständlichkeit. ‚Tschetschenskaja Respublika‘ lese ich auf dem Cover, wenn die paar kyrillischen Buchstaben, die ich entziffern kann, mich nicht täuschen. Typ dunkler Teint, schwarzer Dreitagebart. Tschetschene? Schwelgt der in Erinnerungen an sein Land? Worauf wartet der? Tschetschenen, gehören die nicht zu denen, die hier absolut keine Chance auf Asyl haben? Das müssen sie doch wissen. Was erwartet einer, den sie nicht hier lassen werden? Wie geht es einem, der wartet, aber nichts zu erwarten hat? Asylbewerberunterkünfte dürften im Moment die mit Abstand größten Wartesäle der Republik sein. Dagegen dieser hier: eine Kammer glückselig belanglosen Wartens auf nichts als einen Anschlusszug. Der Dreitagebart-Typ wartet, und ich warte, im selben Raum, aber sein Warten, mein Warten: dazwischen liegt eine Welt", so bei Wartke.

Gegen die Hamburger Auswandererhallen, die zumindest 30 Jahre ihre ursprüngliche Wartefunktion ausübten, brachte es der schlösschenartige Wartepavillon im Kölner Hauptbahnhof nur auf knapp die halbe Zeit. Bereits 1909 wurde er wieder eingerissen, zugunsten durchgehender Gleise.


Die Beschleunigung des Verkehrs machte dem Warten den Platz streitig. Und so war der Abbruch dieses Warteschlösschens der Auftakt einer Entwicklung, in der das Warten mehr und mehr an den Rand des Bahnhofgeschehens gedrängt wurde.
Wartende im Wartesaal am Hauptbahnhof Leipzig um 1915.
Der Wartesaal am Hauptbahnhof Leipzig um 1915, wo sich heute eine Buchhandlung befindet. © picture alliance/dpa/akg
Beispiel: der "Preußische Wartesaal" im Hauptbahnhof Leipzig. Mit Stuckverzierungen an Wänden und Säulen. Unter historischer Schmuckdecke mit wilhelminisch anmutenden Ornamenten. In den Aufbruchsjahren nach 1989 wurde das erlesene Warte-Ambiente stilgerecht und kostenintensiv renoviert.
Im November 2007 wurde der Wartesaal geschlossen, die Bahnhofsbuchhandlung zog ein. Während umgekehrt die Bahn in den alten Räumlichkeiten der Buchhandlung einen Wartebereich eingerichtet hat, der sie mit deutlich kleinerer Grundfläche, um einiges billiger zu stehen kommt.

Eine tadellos trostlose Kiste

In den 1970er-Jahren ist der Prototyp des deutschen Bahnhofswartesaals eine tadellos trostlose Kiste. Vier radikal kahle Wände.
Beispiel: Warteraum im Hauptbahnhof Wuppertal. Ein Aquarium zwischen Bahnsteig 2 und 3. An die Wand gedübelt ein paar Maschendrahtsitze, wo zu fürchten steht, dass sich binnen kürzester Frist ein Gittermuster in den Allerwertesten eingedrückt hat, das man auf absehbare Zeit nicht wieder loswird. An den Wänden zwei Rahmen für Poster: so leer wie sie nur leer sein können. Muss sich die Fantasie ihre Bilder selber malen, Fotos schießen, Plakate schreiben, Zettelkästen aufhängen.
An Fahrkartenautomaten versuchen Kunden Fahrkarten zu ziehen. 
Warten mit wenig bis gar keinem Flair mehr.© picture alliance / dpa / Roland Weihrauch
Ab 1979 ging es dem Wartesaal so richtig ans Fell. Als der Stundentakt der Intercity-Züge eingeführt wurde: immer zur vollen Stunde auf den Fernverkehrsbahnhöfen. Anschluss direkt am Gleis gegenüber. Warten sollte so gut wie nicht mehr stattfinden. – Sollte! 20 Jahre und etliche Zugverspätungen später hatte man ein Einsehen und räumte dem Warten im Bahnhof wieder ein Plätzchen ein.
Um, wie es hieß, "die Aufenthaltsqualität im Bahnhof aufzuwerten" und die "Kundenbindung" zu erhöhen, wurden ab 1997, merkwürdigerweise zeitgleich mit der Realisierung des "integralen Taktfahrplans", der nun alle Zugsysteme der Deutschen Bahn aufeinander abstimmt, das Warten also noch weiter aus dem Verkehr zu ziehen versucht, wurden ab 1997 an den ICE-Knotenbahnhöfen die "DB-Lounges" eingeführt: Wartebereiche ausschließlich für Vielfahrer und Erste-Klasse-Reisende.
Nach Jahrzehnten klassenlosen Wartens: nun wieder die Klassengesellschaft des Wartens:
"Elegante Sitzlandschaften, Service Station, funktionelle Laptop-Arbeitsplätze für die moderne Bürokommunikation, kostenloses Getränkeangebot. Wir freuen uns auf Ihren Besuch."
To lounge: herumlungern, sich rekeln, faulenzen. Nicht selten gehts hier entschieden lauter zu als im Warteraum zweiter Klasse, der – sofern es ihn noch gibt – seine Tristesse schweigend aussitzt. In den Upper-Class-Lounges hingegen plappern ständig Notebook-Tastaturen, redet jemand besessen auf sein Handy ein und wickelt sein Global-Business ab, trippeln verlängerte Fingernägel wie Taubenfüßchen übers Smartphonedisplay, schnattert der Fernseher in der Ecke das Neueste vom Neuesten in die Welt.

Investitionen in Lounges

Inzwischen gibt es bundesweit 15 Warte-Lounges. 2011 von vier, 2015 bereits von fünf Millionen Reisenden besucht. Laut einer Untersuchung der Bahn zu 80 Prozent Geschäftsreisende und zu 75 Prozent Männer.
Derzeit werden die Lounges sukzessive umgebaut und eine Dreiteilung in Bistro-, Ruhe- und Arbeitsbereich vorgenommen.
Jetzt, wo – jedenfalls fahrplanmäßig – keiner mehr warten muss, wo man überhaupt nicht mehr zum Warten kommt, jetzt besinnen sich die Bahnhofsinnenarchitekten darauf, die Warteeinrichtungen durchzustylen. Die Deutsche Bundesbahn sah über Jahrzehnte tatenlos zu, wie die altgestandenen Räumlichkeiten und Möbel des Wartens verfielen und die Fahrgäste nasebohrend auf zugigen Bahnsteigkanten oder unter rumpelnden Gleisgewölben standen.
Statt der Wartesäle sind während der letzten Jahre für Normalsterbliche "Wartezonen" entstanden, wo das Warten, von Glaswänden umfasst, jetzt perfekt designt stattfindet.
An den kleinen Provinzbahnhöfen dagegen…
"… da beobachten wir schon, dass die Bahnhöfe sehr unter der funktionalen Perspektive betrachtet werden – für den Moment, wo alles funktioniert. Und der Moment, wo man mal warten muss, nicht mit bedacht ist, also die Möglichkeiten, sich unterzustellen, wenn es regnet, die Möglichkeiten, irgendwie ins Warme zu kommen, die sind halt in den letzten Jahren massiv reduziert worden", sagt Daniel Gaschick.

Das Bahnfahren ist zur Nebensache geworden

Ab Mitte der 1990er-Jahre kam in Deutschlands Bahnhöfen eine weitere Strategie zur Geltung: die Bespielung mit Shoppingmalls. Wofür viele mehr oder minder obsolet gewordene Räumlichkeiten in den Eingeweiden der großen Bahnhöfe geopfert wurden, etwa die Gepäckabfertigung, die alten "Aki"-Bahnhofskinos oder eben die Wartesäle.
"Diese Verknüpfung von öffentlichem Verkehr und Einkaufsmöglichkeiten am Bahnhof führt dazu, dass das Warten eben nicht mehr darin besteht, auf einer Bank zu sitzen und Zeitung zu lesen, sondern zu shoppen, was natürlich lukrativer ist; in dem Moment, wo ich die gleiche Fläche für eine Pizzabude vermieten kann, habe ich Einnahmen."
Der klassische Wartesaal ist eine profitfreie Zone. Gewesen. Mit purem Warten war und ist kein Geld zu verdienen. Beispiel Berlin Ostbahnhof. Zwischen der Glitterwelt aus Kommerzgalerien, Leuchtreklamen und Sonderverkaufsaktionen hat man große Mühe, den Durchgang zu den Gleisen zu finden. Der duckt sich in einer abgelegenen Ecke schmalbrüstig zwischen die aufgeplusterten Geschäfte: dunkel, düster, eng.
Das Bahnfahren ist zur Nebensache geworden, führt ein Schattendasein, der Nur-Fahrgast wird zur grauen Maus, die durch die Mall huscht.

Die Verschränkung von Verkehr, Verzehr und Verkauf

München, Hannover, Mannheim, Leipzig – in der riesigen Bauchhöhle der Bahnhöfe rollt der Rubel. Vom Darjeeling bis zum Diamantcollier, von der Zahnbürste bis zur Zuckerstange, vom topfitten Turnschuh bis zur Schlaftablette, alles, was das Herz begehrt, ist hier zu erstehen.
"Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen, wir müssen wirklich knallhart kalkulieren, Empfangsgebäude, die müssen sich aus der Vermarktung einfach finanzieren", so Iris Ludwig, DB Station & Service AG.
"Die Muße, das ist richtig, das braucht man, aber wir als Wirtschaftsunternehmen können uns das nicht leisten. Und einfach wirklich bitte ich um Verständnis, das Ziel ist einfach, dass die Züge fahren."
Die Verschränkung von Verkehr und Verzehr und Verkauf.
Zu sehen ist der Kölner Hauptbahnhof abends im Regen.
Der Kölner Hauptbahnhof: Zwischen bloßgelegten Stahlträgern widmet man sich dem Rundum-Merchandising.© picture-alliance / dpa / Oliver Berg
In den labyrinthischen Gewölben des Kölner Hauptbahnhofs etwa, wo früher das Gepäck verfrachtet und aufbewahrt wurde, in den einst so finsteren Hallen schallt jetzt die Kunde von König Kunde. Zwischen bloßgelegten Stahlträgern widmet man sich dem Rundum-Merchandising in präzise austariertem Branchen-Mix.
"Erlebnis- und Einkaufswelt mit Gleisanschluss. Täglich von fünf bis dreiundzwanzig Uhr!" Jahresumsatz circa 70 Millionen Euro.
Man trinkt im Stehen einen pechschwarzen Espresso aus Tassen, die kaum größer sind als die Nieten, mit denen nebenan die massigen Stahlträger zusammengehalten werden. Lässt sich zwischen zwei ICEs a tempo Kontaktlinsen verpassen, ersteht eine Uhr für 800 € und für die Herzallerliebste ein glitzerndes Kleinod zum Preise von 1.950 €.
Man lässt sich zur Pediküre nieder oder kehrt auf a bayerisch‘ Maß ein, schlürft russischen Schaumwein, wirft ein britisches Windelpacket in den Einkaufswagen. Während oben drüber Dolomitenexpress, EuroNight Jan Kiepura nach Moskau und Thalys nach Paris sich mit der Oberbergischen Bahn ein Stelldichein geben.

Der Bahnhofsflaneur hat ausflaniert

Der Bahnhofsflaneur hat ausflaniert, der Wartebankdrücker steht in der Warteschlange vor der Kasse. Wartezeit wird Nutzzeit. Warten muss sich rechnen.
"Eine flächendeckende Verbesserung der Wartesituation bleibt Anliegen vom Fahrgastverband, aber das ist viel Geld, was investiert werden muss in etwas, was man ja eigentlich gar nicht haben möchte! Nämlich das Warten", sagt Daniel Gaschick.
Ein Zug der Zeit: Wo Kommunikation mit Lichtgeschwindigkeit stattfindet, in Echtzeit um die halbe Welt, da wirkt es unsäglich anachronistisch, zwölf Minuten auf den Zug zur Liebsten warten zu müssen!
"Weil man das Gefühl hat, in jedem Moment irgendwie alles abrufen zu können, jede Information, jeden Sachverhalt aus dem Netz heranzuziehen, und da passt es natürlich nicht, so eine Situation zu erleben, wo der Zug einfach nicht kommt zu der versprochenen Minute."
Und die Verkehrsunternehmen landauf, landab beeilen sich, wenigstens die Information pünktlich zu liefern, wie lang es noch dauert. Brav wird die Restwartezeit an den Anschlagtafeln der Bus- und Bahnhaltestellen Zeile für Zeile runtergerechnet, abgezählt. Warten gegen den Timecode. Warten in Zeithäppchen unterteilt, ist zu verkraften, weil zu berechnen. Ein Ende ist absehbar. Informiert werden hilft wahre Wunder.
"Allein das Gefühl, dass man wahrgenommen ist, das erleichtert einem das Warten sehr, das Allerwichtigste ist, dem Fahrgast überhaupt zu signalisieren, dass man ihn im Blick hat. Wenn er da auf einem Bahnsteig im tiefsten Schwarzwald stehen gelassen wurde."

Für Bahnhöfe vielleicht eine Chance

Auch wenn die Bahn versucht, die Wartezeit zu verkürzen, wo's nur geht, beziehungsweise umzumünzen, auch wenn die asketische Disziplin des Wartens aus der Mode gekommen ist: Die physische, die analoge Mobilität bleibt an die Zeit und den Zeitverbrauch gekoppelt – und damit ans Warten.
"Das Warten wird heutzutage von vielen durch den Stöpsel im Ohr abgearbeitet."
Für die Bahnhöfe vielleicht eine Chance, auf genau diesen Zug zu springen, Künstlern und Straßenmusikern die heiligen Hallen als Betätigungsfeld anzubieten, um dem Warten die Kreativität zurückzugeben, die ihm recht eigentlich zu eigen ist. Eine Einladung für Ideen und Fantasien, die sich aus der Zeit erheben.
"Dann ist Warten plötzlich ein Geschenk, dass man was erlebt, was sonst einem so nie begegnet wäre."
"Gleis 9. Ich weiß, Gleis 9. Ich müsste mich nur aufmachen. Durch die Passage durch. Am Kiosk heil vorbeikommen, keine Rolle Drops. Und keine Krakauer mit Senf. Okay, was aber, womöglich, was wenn ich womöglich dann doch leicht vom Weg abkommen würde?! Nach links, wo die Lichter sind. Das Gewimmel aus Büroklammerhengsten, Liebespaaren mit Koffertürmen, zerfledderten Plastiktüten. Die fliegenden, fliehenden Vorstellungen. Ihr leuchtend orangerotes Haar im Visier! – Was für ‚n Gleis war das noch?", so Wartke.

Eine Wiederholung vom 5. April 2017.
Mehr zum Thema