Geschichte des eigentümlichen Lebens

10.10.2008
Dieter Kühn rekonstruiert in seinem Band "Gertrud Kolmar: Leben und Werk, Zeit und Tod" das Leben einer jüdischen Dichterin. Und er entfaltet zugleich ein atemberaubendes Zeitpanorama.
Er ist der meistunterschätzte deutsche Schriftsteller seiner Generation: Dieter Kühn, geboren 1935. Im Mittelpunkt seiner Bücher stehen Napoleon oder Wolkenstein, Neidhart, Wolfram von Eschenbach, Clara Schumann oder Christopher Marlowe - vor allem aber die hellwache, quecksilbrige Intelligenz eines großen Erzählers.

Als Biograf brillant, als Romancier visionär, als Essayist hinreißend einsichtsreich: Alle fünf Jahre wird der ungewöhnlich talentierte und vielseitige Dieter Kühn dieser Qualitäten halber neu entdeckt, nur um dann doch wieder dank des Sensationalismus der Medien, der kuriosen Mechanismen des Markts und der Aphasien des Literaturbetriebs an den Rand gedrängt zu werden.

Mit Dieter Kühns neuem biografischen Projekt könnte sich das ändern: "Gertrud Kolmar: Leben und Werk, Zeit und Tod" rekonstruiert auf über 600 Seiten die Biografie einer deutschen Dichterin, die unter dem Namen Gertrud Käthe Chodziesner 1894 in Berlin geboren wurde und vermutlich Anfang März 1943 in Auschwitz starb.

Es ist die Geschichte einer der wichtigsten Dichterinnen deutscher Sprache, die Geschichte einer jüdischen Frau, die als Zwangsarbeiterin die Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs auf Schöneberg miterlebte und die Geschichte einer Berliner Familie, die zwischen Chile und Australien zerstreut wurde.

Dieter Kühn erzählt die Geschichte des eigentümlichen Lebens der Gertrud Kolmar, entfaltet zugleich ein atemberaubendes Zeitpanorama, vor allem aber – und darin liegt das Geheimnis des ästhetischen Gelingen seiner biografischen Methodik: Dieter Kühn zeigt auf, wie alles auch immer ganz anders hätte kommen können.

Rezensiert von Dennis Scheck

Dieter Kühn: Gertrud Kolmar: Leben und Werk, Zeit und Tod
S. Fischer
672 Seiten, 24.90 Euro