Geschichte der Hörspieldramaturgie Teil 3

Ein totales Schallspiel. Die Kontroversen der Sechzigerjahre

11:02 Minuten
Hörspielproduktion im Funkhaus - DDR 1962,
. © imago/Marco Bertram
Von Ulrich Bassenge · 29.12.2020
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Die kleine Geschichte der Hörspieldramaturgie beleuchtet diesmal die frühen 60er Jahre, eine Zeit, in der herkömmliche Erzählstrategien über Bord geworfen wurden. Ulrich Bassenge über den erbitterten Kampf zwischen den Verfechtern des literarischen Hörspiels und radikalen Experimentierern.
Zitat: "Das literarische Hörspiel ist heute als Modell eindeutig erschöpft, es bringt nur mehr Gleiches, längst Dagewesenes, Totes hervor. Routine, Sterilität und Phraseologie greifen um sich."
So wettert 1961 Friedrich Knilli mit eindeutiger Stoßrichtung gegen das deutsche Innerlichkeitshörspiel und seine Vertreter, wie den Dichter Günter Eich oder den Regisseur Friedrich Schröder-Jahn. Knillis Ansatz ist provokant: Lärm, Geräusch, Geschrei und die Ästhetik der Maschinen empfiehlt er als Ausweg für das Genre und postuliert ein totales Schallspiel. Hiermit will er die Hamburger Dramaturgie, angeführt von Heinz Schwitzke, diskreditieren und zu Fall bringen. Getroffen jault Schwitzke auf und versteigt sich in einer öffentlichen Replik zu den Worten:
Zitat: "Knillis anspruchsvolle Überlegungen verdienen den Namen Scharlatanerie. Knilli zwingt Hörspieldichter, technische Bastler zu werden. Und der Darsteller, der Sprecher – das Hörspiel ist ja gesprochenes Wort – kommt bei ihm bezeichnenderweise überhaupt nicht vor, er wird durch die Maschine ersetzt. Was dem Hörspiel nottut, sind aber nicht Ideologien, sondern ernste Arbeit an menschlicher Sprache und menschlicher Ausdrucksfähigkeit."
Günter Eich, ein Mahner angesichts einer mechanisierten Welt, hat 1960 bei der Ulmer Hörspieltagung der Gruppe 47 eine Neufassung seines Stückes "Der Tiger Jussuf" gelesen. Mit seismographischem Gespür hat er inmitten seines unglaublichen Erfolgs eigene Erstarrung wahrgenommen. Eichs Lösung resultiert paradoxerweise in einer Verkapselung: seine Sprache wird spröder. Vor ihm haben andere die Zeichen der Zeit erkannt. 1958 wirkt Ingeborg Bachmanns Hörspiel "Der gute Gott von Manhattan" in der Inszenierung von Schröder-Jahn wie Höhe- und Endpunkt der Innerlichkeitsdramaturgie.
Zitat: "Das auf verwegene Weise misslungene Hörspiel (…) litt im Grunde nicht an einem Übermaß, sondern an einem Mangel poetischer Kühnheit. Es hätte gewonnen, wenn anstelle des unleidlichen "erklärenden" Rahmens, dieser Konzession an den hörspielüblichen Storyismus, das unverstellte Wort des Dichters, die "Sache selbst" getreten wäre."
"Storyismus" – eine interessante Neuprägung, die der Kritiker der Funkkorrespondenz 1958 dem Raunen entgegensetzt. Auch die Kritik vernimmt also eine Gleichförmigkeit und fordert als Antidot zur einlullenden Narration mehr Poesie, mehr Verdichtung.
Zitat: "Es war nur konsequent, daß Knilli seinen theoretischen Vorstoß mit einer vehementen Polemik gegen das abzusichern suchte, was den Anhängern des traditionellen Hörspiels seit je am wichtigsten gewesen war: die Anerkennung des Hörspiels als literarische Gattung."
So formuliert Stefan Bodo Würffel rückblickend 1978 in seinem bahnbrechenden Werk "Das deutsche Hörspiel". Es ist vielleicht kein Zufall, dass diese damals eher akademische Debatte, deren Wirkung erst Jahre später einsetzen wird, zu einem Zeitpunkt stattfindet, als die Bedeutung des Radios schwindet. Anfang der 1960er Jahre besitzen zwar die meisten Menschen ein Rundfunkgerät, das ihren Alltag begleitet. Doch verliert das Hörspiel, jenes polierte Juwel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, in dem Maß an Bedeutung, in dem das Fernsehen an Popularität gewinnt. Wie von Zauberhand verwandeln sich in den Abendstunden Zuhörer in Zuseher. Und eingeschaltet werden nicht mehr Dürrenmatt-Hörspiele, sondern Durbridge-Krimis. Tatsächlich wird hierfür das vergessene Wort "Straßenfeger" geprägt.
Zitat: "Fun Fact: Damit ist keine Reinigungskraft gemeint, liebe jüngere Zuhörer, sondern ein Fernseh-Event, das für menschenleere Straßen sorgt."
1962 strahlen Südwestfunk und Bayerischer Rundfunk in einem avantgardistischen Akt das Hörspiel "Marathon" von Naoya Uchimura im japanischen Original aus. Man mutet den Hörern zu, sich nach einer Einführung auf ein 75-minütiges Audiokunstwerk einzulassen - nur mit wenigen Zwischentexten versehen.
Der Atemrhythmus des Marathonläufers definiert eine delirische Symphonie aus Sprecherstimmen, Rufen, O-Tönen und Musik, die jenseits verbalen Verstehens Wirkung zeitigt. "Marathon" - ein großer Moment der Hörspielgeschichte. Einstweilen richtet sich das Genre trotz seiner Sinnkrise in der neu zugewiesenen Nische behaglich ein. Ähnlich wie zeitgleich im Kino die französische Nouvelle Vague beginnt im deutschen Hörspiel eine Epoche, in der sich zwar noch kein Werk mit dem stolzen Begriff "neu" schmückt, doch in der durchaus Neues geschieht. Ohren zu hören sind allerdings unabdingbare Voraussetzung. Diese Zwischenzeit ist an Namen wie Hansjörg Schmitthenner, Dramaturg beim Bayerischen Rundfunk, und Paul Pörtner geknüpft.
Paul Pörtner: "Ich finde das Wort Hörspiel sehr anregend. Denn es nennt zwei Bereiche, den Bereich des Hörens und den Bereich des Spielens. In beiden Bereichen tummle ich mich gerne."
Pörtner ist befreundet mit Friedrich Knilli, dem visionären Polemiker des totalen Schallspiels, der um 1960 literarische Avantgarde-Veranstaltungen moderiert. Der Hörspielgelehrte Reinhard Doehl hält es für wahrscheinlich …
Zitat: "… dass Pörtners Hörspielexperimente ihren Namen dem Buch Knillis verdanken, von dessen Thesen sie sich intentional jedoch deutlich unterscheiden lassen. Primär waren sie für Pörtner als Autor der Versuch, sich vom Schreibtisch ebenso wie von der traditionellen Inszenierung mit Schauspielern oder Sprechern zu lösen durch ein elementares Arbeiten mit den sprachlichen und musikalischen Materialien."
Paul Pörtners "Schallspielstudie 1" nimmt 1964 das Zeitalter des Neuen Hörspiels vorweg, während sich zur selben Zeit das Genre ein literarisches Denkmal setzt - mit einer Vielzahl von Anthologien, in denen gedruckte Manuskripte ihren literarischen Anspruch noch einmal zementieren.

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